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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0166
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Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 63-64 151

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64, 21 Der erste Christ.] Paulus erscheint als „erster Christ", weil er die
Ablösung vom ethnisch begrenzten Judentum zugunsten einer universalen
Welt-Religion - des Christentums - vollzog und auch, weil er persönlich eine
psychische Umwandlung erfuhr. N. psychologisiert Paulus, indem er dessen
Briefe als die „Geschichte des Apostels Paulus" (64, 29 f.), ja als Ausdruck der
„Verwirrungen und Stürme eines solchen Kopfes, einer solchen Seele" (65, I f.)
interpretiert. Auch bezeichnet er ihn als „Epileptiker" (66, 29), womit er, wie
schon manche vor ihm, auf das ekstatisch-visionäre Bekehrungserlebnis an-
spielt, das Paulus bei Damaskus hatte. N. orientierte sich an den Ausführungen
des englischen Psychiaters Henry Maudsley (1875): Die Zurechnungsfähigkeit
der Geisteskranken. Maudsley interessiert sich u. a. für die Psychopathologie
religiöser Reformatoren und geht zunächst auf Mohammed, dann auf Paulus
ein. Er diagnostiziert bei beiden einen epileptischen Anfall als Anlass für den
entscheidenden Durchbruch: „Für alle nämlich, die nicht dickgläubig sind,
kann es kaum einem Zweifel unterliegen, dass Mohammed's erste Vision und
Offenbarung durch einen epileptischen Anfall herbeigeführt wurde, Moham-
med aber als Betrogener oder als Betrüger jenes körperliche Leiden ausbeutete,
um in den Ruf zu kommen, er sei von Gott gesandt. Seine Visionen waren
gleicher Art wie jene, die erfahrungsmässig bei Epileptikern vorkommen. Nicht
selten haben Epileptiker in Irrenanstalten ganz ähnliche Visionen, an deren
Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit dieselben glauben. Wie ich nicht an Betrug
denken darf, wenn der verfolgende Saulus in seiner Ekstase ein gläubiger Pau-
lus wurde, so erachte ich es andererseits für ausgemacht, dass Mohammed
gleich von vornherein von der Wirklichkeit alles dessen, was er in seinen Visio-
nen sah, überzeugt war" (Maudsley 1875, 51). Ganz auf Paulus und auf die
Umwandlung seiner ,moralischen' Verfassung durch das epileptisch induzierte
Damaskus-Erlebnis konzentriert sich Maudsley wenig später: „Bemerkens-
werth ist es ferner, welche Folgen ein starker Anfall von Irrsinnigkeit manch-
mal in der Moralität des betroffenen Individuums nach sich zieht: die Verstan-
desthätigkeit kehrt bei ihm zur Norm zurück, ohne an Schärfe eingebüsst zu
haben, aber sein moralischer Charakter ist ein ganz anderer geworden, und die
geistige Organisation hat ernstlichen Abbruch erlitten; im ganzen Leben eines
solchen Individuums kann vielleicht eine grosse Umwandlung eintreten, wie
da, als aus dem Saulus von Tartus ein Heidenapostel Paulus wurde. Ein epilep-
tischer Anfall kann in gleicher Weise das moralische Empfinden beeinträchti-
gen, wie er wohl das Erinnerungsvermögen vernichtet; in den Asylen für Geis-
teskranke hat man Gelegenheit zu beobachten, wie sich bei Epileptikern
manchmal vor dem Eintritte der Anfälle der moralische Charakter in höchst
auffallender Weise verändert, sodass diese Veränderung für jenen Eintritt prog-
nostisch ist" (Maudsley 1875, 61).
 
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