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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0169
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154 Morgenröthe

und ist ein Gesetz nur für die Juden, das vollendende Gesetz ist ein Gesetz
für Alle ohne Unterschied. Ein Gesetz, das wider das andere erlassen
wird, hebt das frühere auf, und ein Vertrag (διαθήκη), der später geschlossen
ist, macht gleichfalls dem früheren ein Ende. Als ein ewiges Gesetz nämlich
und als vollendendes ist uns Christus gegeben worden und als ein
unabänderlicher Vertrag (διαθήκη πιστή), nach welchem kein Gesetz, keine An-
ordnung, kein (neues) Gebot mehr denkbar ist' (Dial. 11. 228. B.). / ,Wenn Gott
verkündigt, dass ein neuer Bund geschlossen werden soll (διαθήκην καινήν
μέλλουσαν διαταχθήσεσθαι) zum Licht der Heiden, und wenn wir wahrneh-
men, dass die Heiden durch den Namen des gekreuzigten Christus von den
Götzenbildern und aller Ungerechtigkeit zu Gott gekommen sind und bis zum
Tode bei dem Bekenntniss zu Gott und in der Frömmigkeit beharren: so kann
Jedermann erkennen, dass dieser Christus das neue Gesetz und der
neue Bund ist. Und wir (Heiden), die wir durch diesen gekreuzigten Christus
zu Gott geführt worden sind, sind das wahrhafte geistliche Geschlecht Israel
und Nachkommen Abrahams' (Dial. 11. 228. E. 229. A.)" (Engelhardt 1878,
241 f.).
Am 22. Juni 1880 schrieb N. an seinen Freund Franz Overbeck: „Wäre es
Dir möglich, 2 theolog<ische> Bücher auf 4 Wochen zu entbehren? nämlich Lü-
demann's Anthrop<ologie> des Paulus und das Buch über Justinus, welches
Du mir öfter genannt hast" (KSB 6/KGB III/1, Nr. 33). Bereits am 19. Juli 1880
berichtete er Overbeck von seinem Lektüre-Eindruck und antwortete zugleich
auf Overbecks Brief vom 10. Juli 1880 (KGB III/2, Nr. 35), in dem dieser sich
negativ zu Engelhardt äußert. Während er Engelhardt nicht schätzt, nennt er
Lüdemanns Werk „ein Meisterstück auf einem sehr schwierigen Felde: leider
ist er kein Schriftsteller" (KSB 6/KGB III/1, Nr. 41). Was N. generell beeindruck-
te, war der anthropologische Ansatz. Schon in der Anfangspartie von M 68
sieht er, psychologisierend über Lüdemann hinausgehend, in den Briefen des
Paulus nicht primär die religiöse Botschaft, sondern „die Geschichte einer der
ehrgeizigsten und aufdringlichsten Seelen und eines ebenso abergläubischen
als verschlagenen Kopfes [...] Ohne diese merkwürdige Geschichte aber, ohne
die Verwirrungen und Stürme eines solchen Kopfes, einer solchen Seele, gäbe
es keine Christenheit" (64, 27-65, 3).
Speziell griff N. den von Lüdemann wie schon von Schopenhauer (WWV II,
4. Buch, Kapitel 48) hervorgehobenen Gedanken auf, dass Paulus das jüdische
„Gesetz" als nicht erfüllbar ansah; aber N. macht diese Erkenntnis zu einem
subjektiven Unvermögen des Paulus, das aus seiner persönlichen - von N. un-
terstellten - Disposition resultierte: „Und nun erfuhr er an sich, dass er - hit-
zig, sinnlich, melancholisch, bösartig im Hass, wie er war - das Gesetz selber
nicht erfüllen konnte" (65, 34-66, 2). Lüdemann konstatierte: „Für den Ju-
 
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