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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0173
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158 Morgenröthe

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70, 7 Das „Nach-dem-Tode".] Der einleitende Satz: „Das Christenthum
fand die Vorstellung von Höllenstrafen im ganzen römischen Reiche vor: über
ihr haben die zahlreichen geheimen Culte mit besonderem Wohlgefallen ge-
brütet" trifft nicht den historischen Sachverhalt. Die Vorstellung von „Höllen-
strafen" war keineswegs im ganzen Römischen Reich verbreitet, sie war auch
nicht charakteristisch für „die zahlreichen geheimen Culte", weder für die Dio-
nysos-Mysterien, noch für die Mithras-Mysterien, noch für die Isis-Mysterien,
die drei bedeutendsten Mysterienkulte. Im Gegenteil waren sie - nach der ritu-
ell gebotenen Geheimhaltung, Einweihung und Reinigung - von Erlösungsvor-
stellungen bestimmt. N.s nach- und antireligiöses Weltbild zeigt immer wieder
Züge des aufgeklärten Denkens, wie er es schon bei Epikur und Lukrez vor-
fand. Deshalb lautet der letzte Satz des Textes, mit dem er die Aktualität dieser
beiden Autoren betont: „Und von Neuem triumphirt Epikur!" Vor diesem Hin-
tergrund sind die unzutreffenden Übertragungen auf die Mysterienkulte zu ver-
stehen - Epikur und sein Bewunderer Lukrez wollten die Menschen von aber-
gläubischer Götter- und Dämonenfurcht befreien, aber kaum im Hinblick auf
Mysterienkulte, die dafür nicht in Frage kamen. N. denkt an das Christentum,
das vieles aus den antiken Mysterienkulten übernahm, aber die Drohung mit
Höllenstrafen und überhaupt die Höllen-Phantasien erst „gebrütet" hat - in
Fortsetzung altorientalischer Jenseitsvorstellungen, die in der jüdischen Apo-
kalyptik weiter entwickelt wurden. Die Offenbarung des Petrus (2. Jh. n. Chr.)
enthält z. B. eine groteske Schilderung der Höllenqualen der Sünder.

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72, 2 Für die „ Wahrheit"!] Der Wahrheitsbegriff des Christentums hat
nichts mit dem philosophischen Wahrheitsbegriff gemeinsam, den N. seiner
Argumentation zugrundelegt, auch wenn die Bezeugung der Wahrheit - etwa
durch das Märtyrertum - in der frühen Christenheit wichtig war. Die christliche
„Wahrheit" liegt in der Offenbarung des Göttlichen selbst durch den „Geist"
und im Evangelium. Vgl. Joh. 16, 13: „Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit
kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten"; Joh. 17, 17: „heilige sie
in deiner Wahrheit, dein Wort ist die Wahrheit". Ebenfalls im Johannesevange-
lium antwortet Pilatus auf Jesu Aussagen, denen zu folge er „für die [göttliche]
Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme" mit
der skeptischen Frage, die N. in dem von ihm abgelehnten biblischen Text
allein gelten ließ: „Was ist Wahrheit?" (Joh. 18, 38). Vgl. ΝΚ zu M 93.
 
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