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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0225
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210 Morgenröthe

(„Handbüchlein der Moral") als Erbauungsbuch berief (vgl. Schweighäuser
1799-1800 [1977]). Dazu trug bei, dass sich schon Augustinus in seinem Haupt-
werk Über den Gottesstaat (De civitate dei) mit folgenden Worten auf Epiktet
berief: „Ut docuit über Epicteti nobilissimi stoici ex decretis Zenonis et Chrysip-
pi, qui huius sectae primas habuerunt" (De civitate dei 9, 5; Patrologia Latina
41, 261. „Wie das Buch Epiktets, des edelsten Stoikers, gelehrt hat nach den
Maßgaben Zenons und Chrysipps, die am Anfang dieser Schule standen").
Epiktet repräsentiert die kynisch gehärtete Form des stoischen Ideals: den
ganz auf Bedürfnislosigkeit und Askese ausgerichteten Kynismus. Aufgrund
seiner Erfahrungen als ehemaliger Sklave wusste er, wovon er sprach, wenn er
in einer ebenso programmatischen wie emphatischen Diatribe (4, 1) die „Frei-
heit" zu einer inneren Haltung erklärte. (Die grundlegenden Darstellungen:
Bonhoeffer 1890 [1968]; Bonhoeffer 1894 [1968]). Epiktet galt als Paradigma
eines glaubwürdigen stoisch-asketischen Lebens - anders als Seneca, der als
reichster Mann des römischen Imperiums (im 90. seiner Briefe an Lucilius) das
Ideal der Eigentums- und Bedürfnislosigkeit verkündete und deshalb schon
von dem spätrömischen Historiker Cassius Dio (etwa 150-235 n. Chr.) und spä-
ter u. a. von La Rochefoucauld als Heuchler desavouiert wurde.
N. deformiert das eigentliche Anliegen Epiktets bis zur Unkenntlichkeit,
um sein Darstellungsziel zu erreichen: die Absage an das Mitempfinden mit
„Anderen" oder gar ein Leben für Andere. Denn nur so meint er seinen auf das
„Ego" ausgerichteten Kult des Individuums mit dem fälschlicherweise hierfür
als Gewährsmann herangezogenen Epiktet stützen zu können. Epiktet aber er-
strebt nur die stoische Unabhängigkeit („Freiheit") und Selbstbewahrung im
Hinblick auf die Gefahr affektiver Destabilisierungen des Ichs durch äußere
Umstände. In seinen Lehrgesprächen (,Diatriben') vermittelte er diese Bot-
schaft allerdings durchaus an „Andere". Er stand in der Tradition der stoischen
Psychotherapie, und diese bezog sich sehr wohl auch auf das Gemeinwesen.
Der berühmteste und bis in die Neuzeit fortwirkende Arzt des Altertums, Galen,
nannte Chrysipps Schrift Über die Affekte ein „therapeutisches Büchlein" (θε-
ραπευτικόν βιβλίον). Chrysipp war die Zentralfigur der Stoa. Die Stoiker, aber
auch die Platoniker traten, anders als Epikur und die Epikureer, nicht für einen
Rückzug ins Private ein, geschweige denn für N.s individualistische Ego-Vor-
stellung, sondern propagierten im Gegenteil ein Engagement in der Gesell-
schaft und im Staat, das dem Gemeinwohl dienen sollte. Plutarch, der die pla-
tonische Tradition und Elemente der Stoa aufnahm, wandte sich in seiner klei-
nen Schrift Ei καλώς εΐρηται τό λάθε βιώσας („Ist ,Lebe im Verborgenen' eine
gute Lebensregel?") gegen Epikur. Schon Zenon, der Begründer der Stoa, hatte
in einer eigenen Schrift Über die Affekte (περί παθών) das Programm einer
Überwindung der Affekte entworfen, um die stoische Gemütsruhe (άταραξία,
 
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