Stellenkommentar Zweites Buch, KSA 3, S. 127 219
sollen. N. lehnt sich daran an, indem er vom „Arzt" spricht, der nur unter
Verzicht auf den Affekt des Mitleids den Menschen therapeutisch helfen könne.
Der berühmte Arzt Galenos aus Pergamon (um 130-199 n. Chr.), der Leibarzt
des der Stoa ergebenen Kaisers Marc Aurel und bis in die Neuzeit hinein eine
medizinische Autorität, hatte unter seinen 153 Werken eine Schrift Über die
Lehren des Hippokrates und Platons (περί των Ίπποκράτους καί Πλάτωνος
δογμάτων) verfasst, in der er auch auf die Affektenlehre der Stoiker Chrysipp
und Poseidonios ausführlich eingeht. Die Einzelausgabe befindet sich unter
dem lateinischen Titel De placitis Hippocratis et Platonis im Corpus Medicorum
Graecorum (CMG) V 4, 1-2. Aufgrund der zahlreichen Exzerpte aus den verlore-
nen Werken der Stoiker Über die Affekte (περί παθών) ist diese Schrift eine
wichtige Quelle. Galen sah die stoische Affektenlehre in engem Zusammen-
hang mit medizinischen Belangen. Vgl. die Gesamtausgabe durch Karl Gottlob
Kühn: Claudii Galeni opera omnia (1821-1833 [1997]). Die einschlägigen Partien
zur stoischen Affektenlehre enthält die Sammlung Stoicorum Veterum Fragmen-
ta (SVF), Bd. III, Nr. 457-481.
Am Ende von M 134 schwenkt N. ganz auf die Position Kants ein, der wie-
derum Seneca folgt: die Empfindung des Mitleids „lähmt ihn [den Menschen]
in allen entscheidenden Augenblicken und unterbindet sein Wissen und seine
hülfreiche feine Hand" (128, 25-27). Vgl. die Seneca- und Kant-Zitate im Kom-
mentar zu M 132. In den vorausgehenden Texten der Morgenröthe, die sich
strikt gegen den Altruismus wenden und das „Ego" des „Einzelnen" über alles
stellen, ist nicht von einer „hülfreichen" Hand und schon gar nicht von der
„Menschheit" die Rede: davon, dass der Philosoph „als Arzt in irgend ei-
nem Sinne der Menschheit dienen will" (128, 23 f.). Insofern handelt es sich
um einen isolierten, schwer zum Gesamt-Duktus der Schrift passenden Kant-
Reflex.
Während N. in diesem Text stoische Positionen adaptiert, wendet er sich
in anderen Schriften gegen die Auswüchse und Einseitigkeiten der Stoa mit
Argumenten, die schon eine lange, bis in die Antike zurückreichende Tradition
hatten. Die Kritiker der Stoa richteten sich gegen die rigorose Bekämpfung der
Affekte und gegen das stoische Ideal der Apathie (~ die autark machende Frei-
heit von Emotionen) vorzugsweise mit dem Argument, dass die Affekte von
Natur aus vorhanden sind und die Stoiker deshalb, wie Cicero (der nur eklek-
tisch Positionen der Stoa aufgriff) einmal pointiert feststellt, in Widerspruch
zu ihrer eigenen Forderung des naturgemäßen Lebens („secundum naturam
vivere") geraten - eine Kritik, die bis in die Neuzeit ungezählte Male wieder-
holt wurde, so von Descartes in seinem Tratte des passions und von dem Fabel-
dichter La Fontaine (Belege in: Spanneut 1973, 283 f.). Besonders nachhaltig
stellten die Peripatetiker den stoischen Rigorismus in Frage, denn die mächti-
sollen. N. lehnt sich daran an, indem er vom „Arzt" spricht, der nur unter
Verzicht auf den Affekt des Mitleids den Menschen therapeutisch helfen könne.
Der berühmte Arzt Galenos aus Pergamon (um 130-199 n. Chr.), der Leibarzt
des der Stoa ergebenen Kaisers Marc Aurel und bis in die Neuzeit hinein eine
medizinische Autorität, hatte unter seinen 153 Werken eine Schrift Über die
Lehren des Hippokrates und Platons (περί των Ίπποκράτους καί Πλάτωνος
δογμάτων) verfasst, in der er auch auf die Affektenlehre der Stoiker Chrysipp
und Poseidonios ausführlich eingeht. Die Einzelausgabe befindet sich unter
dem lateinischen Titel De placitis Hippocratis et Platonis im Corpus Medicorum
Graecorum (CMG) V 4, 1-2. Aufgrund der zahlreichen Exzerpte aus den verlore-
nen Werken der Stoiker Über die Affekte (περί παθών) ist diese Schrift eine
wichtige Quelle. Galen sah die stoische Affektenlehre in engem Zusammen-
hang mit medizinischen Belangen. Vgl. die Gesamtausgabe durch Karl Gottlob
Kühn: Claudii Galeni opera omnia (1821-1833 [1997]). Die einschlägigen Partien
zur stoischen Affektenlehre enthält die Sammlung Stoicorum Veterum Fragmen-
ta (SVF), Bd. III, Nr. 457-481.
Am Ende von M 134 schwenkt N. ganz auf die Position Kants ein, der wie-
derum Seneca folgt: die Empfindung des Mitleids „lähmt ihn [den Menschen]
in allen entscheidenden Augenblicken und unterbindet sein Wissen und seine
hülfreiche feine Hand" (128, 25-27). Vgl. die Seneca- und Kant-Zitate im Kom-
mentar zu M 132. In den vorausgehenden Texten der Morgenröthe, die sich
strikt gegen den Altruismus wenden und das „Ego" des „Einzelnen" über alles
stellen, ist nicht von einer „hülfreichen" Hand und schon gar nicht von der
„Menschheit" die Rede: davon, dass der Philosoph „als Arzt in irgend ei-
nem Sinne der Menschheit dienen will" (128, 23 f.). Insofern handelt es sich
um einen isolierten, schwer zum Gesamt-Duktus der Schrift passenden Kant-
Reflex.
Während N. in diesem Text stoische Positionen adaptiert, wendet er sich
in anderen Schriften gegen die Auswüchse und Einseitigkeiten der Stoa mit
Argumenten, die schon eine lange, bis in die Antike zurückreichende Tradition
hatten. Die Kritiker der Stoa richteten sich gegen die rigorose Bekämpfung der
Affekte und gegen das stoische Ideal der Apathie (~ die autark machende Frei-
heit von Emotionen) vorzugsweise mit dem Argument, dass die Affekte von
Natur aus vorhanden sind und die Stoiker deshalb, wie Cicero (der nur eklek-
tisch Positionen der Stoa aufgriff) einmal pointiert feststellt, in Widerspruch
zu ihrer eigenen Forderung des naturgemäßen Lebens („secundum naturam
vivere") geraten - eine Kritik, die bis in die Neuzeit ungezählte Male wieder-
holt wurde, so von Descartes in seinem Tratte des passions und von dem Fabel-
dichter La Fontaine (Belege in: Spanneut 1973, 283 f.). Besonders nachhaltig
stellten die Peripatetiker den stoischen Rigorismus in Frage, denn die mächti-