288 Morgenröthe
Bemerkung in 176, 14-16, „dass zwischen Verbrechern und Geisteskranken
kein wesentlicher Unterschied besteht", evoziert den psychiatrischen Diskurs.
Gerade in der Zeit, in der die Morgenröthe entstand, hatte Kraepelin eine Schrift
mit dem Titel Die Abschaffung des Strafmaßes. Ein Vorschlag zur Reform der
heutigen Strafrechtspflege (1880) veröffentlicht. Im Hinblick auf den zeitgenös-
sischen Kontext und die ,Zeitgemäßheit' von N.s Morgenröthe mit ihren „Ge-
danken zu den moralischen Vorurtheilen" ist auch der Beginn von Kraepelins
Rezension bemerkenswert: Er spricht von „einer Zeit der Hochfluth ethischer
Literatur".
Deutliche Affinitäten weisen sowohl Ree wie N. zu dem Werk von Julius
Hermann von Kirchmann auf: Die Grundbegriffe des Rechts und der Moral als
Einleitung in das Studium rechtsphilosophischer Werke (1869). N. besaß in seiner
persönlichen Bibliothek auch noch eine andere Schrift dieses Autors: Über das
Prinzip des Realismus. Ein Vortrag in der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin
(1875). Bekannt geworden war v. Kirchmann als streitbarer Jurist durch seinen
1847 vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin gehaltenen Vortrag: Über die
Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1847/1848). Er hatte ausgepräg-
te philosophische Interessen und begründete 1868 die bis heute im Verlag Felix
Meiner erscheinende ,Philosophische Bibliothek'.
Zur Wirkungsgeschichte sowohl der Interferenz wie der Inkompatibilität
von orthodox juristischem, ,moralischem' und psychiatrischem Diskurs, wie er
sich in N.s Assoziation von „Verbrechern und Geisteskranken" und in seinen
Rückgriffen auf Henry Maudsley: Die Zurechnungsfähigkeit der Geisteskranken
(NPB) spiegelt, gehört die in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaf-
ten integrierte Erzählung vom geisteskranken Verbrecher Moosbrugger. Da der
Roman auf weiten Strecken von einer intensiven Auseinandersetzung Musils
mit N. zeugt, ist hierfür gerade der Text M 202 von Bedeutung.
Weil N. selbst seiner Erörterung eine für den Angriff auf die „moralischen
Vorurtheile" programmatische Relevanz zumaß, spitzt er ihn am Ende auf den
Begriff der „Pflugschar" zu (178, 27), den er ursprünglich als Titelbegriff der
Morgenröthe vorsah. Abschließend unterstreicht er ihn noch mit Versen aus
dem spätmittelalterlichen Werk: Wernher der Gartenaere: Meier Helmbrecht,
Vers 546 ff. N. zitiert die Verse nach der Textsammlung Alte hoch- und nieder-
deutsche Volkslieder mit Abhandlung und Anmerlaingen (Uhland 1866, Bd. 2,
72). N. nimmt die archaisierende Wortform „geneußt" auf (= genießt). In einem
nachgelassenen Text zitiert er eine längere Partie samt der Ausgabe: „Schöns-
tes deutsches Wort zur Bezeichnung des Ehrenmannes (13. Jahrhundert vom
Meier Helmbrecht): ,Willst du mir folgen, so baue mit dem Pfluge! dann genie-
ßen deiner viele, dein geneußt sicherlich der Arme und der Reiche, dein ge-
neußt der Wolf und der Aar und sicherlich alle Kreatur'. Uhland, p. 72" (NL
Bemerkung in 176, 14-16, „dass zwischen Verbrechern und Geisteskranken
kein wesentlicher Unterschied besteht", evoziert den psychiatrischen Diskurs.
Gerade in der Zeit, in der die Morgenröthe entstand, hatte Kraepelin eine Schrift
mit dem Titel Die Abschaffung des Strafmaßes. Ein Vorschlag zur Reform der
heutigen Strafrechtspflege (1880) veröffentlicht. Im Hinblick auf den zeitgenös-
sischen Kontext und die ,Zeitgemäßheit' von N.s Morgenröthe mit ihren „Ge-
danken zu den moralischen Vorurtheilen" ist auch der Beginn von Kraepelins
Rezension bemerkenswert: Er spricht von „einer Zeit der Hochfluth ethischer
Literatur".
Deutliche Affinitäten weisen sowohl Ree wie N. zu dem Werk von Julius
Hermann von Kirchmann auf: Die Grundbegriffe des Rechts und der Moral als
Einleitung in das Studium rechtsphilosophischer Werke (1869). N. besaß in seiner
persönlichen Bibliothek auch noch eine andere Schrift dieses Autors: Über das
Prinzip des Realismus. Ein Vortrag in der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin
(1875). Bekannt geworden war v. Kirchmann als streitbarer Jurist durch seinen
1847 vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin gehaltenen Vortrag: Über die
Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1847/1848). Er hatte ausgepräg-
te philosophische Interessen und begründete 1868 die bis heute im Verlag Felix
Meiner erscheinende ,Philosophische Bibliothek'.
Zur Wirkungsgeschichte sowohl der Interferenz wie der Inkompatibilität
von orthodox juristischem, ,moralischem' und psychiatrischem Diskurs, wie er
sich in N.s Assoziation von „Verbrechern und Geisteskranken" und in seinen
Rückgriffen auf Henry Maudsley: Die Zurechnungsfähigkeit der Geisteskranken
(NPB) spiegelt, gehört die in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaf-
ten integrierte Erzählung vom geisteskranken Verbrecher Moosbrugger. Da der
Roman auf weiten Strecken von einer intensiven Auseinandersetzung Musils
mit N. zeugt, ist hierfür gerade der Text M 202 von Bedeutung.
Weil N. selbst seiner Erörterung eine für den Angriff auf die „moralischen
Vorurtheile" programmatische Relevanz zumaß, spitzt er ihn am Ende auf den
Begriff der „Pflugschar" zu (178, 27), den er ursprünglich als Titelbegriff der
Morgenröthe vorsah. Abschließend unterstreicht er ihn noch mit Versen aus
dem spätmittelalterlichen Werk: Wernher der Gartenaere: Meier Helmbrecht,
Vers 546 ff. N. zitiert die Verse nach der Textsammlung Alte hoch- und nieder-
deutsche Volkslieder mit Abhandlung und Anmerlaingen (Uhland 1866, Bd. 2,
72). N. nimmt die archaisierende Wortform „geneußt" auf (= genießt). In einem
nachgelassenen Text zitiert er eine längere Partie samt der Ausgabe: „Schöns-
tes deutsches Wort zur Bezeichnung des Ehrenmannes (13. Jahrhundert vom
Meier Helmbrecht): ,Willst du mir folgen, so baue mit dem Pfluge! dann genie-
ßen deiner viele, dein geneußt sicherlich der Arme und der Reiche, dein ge-
neußt der Wolf und der Aar und sicherlich alle Kreatur'. Uhland, p. 72" (NL