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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0342
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Stellenkommentar Viertes Buch, KSA 3, S. 220-221 327

Illusion auch den „Wahn" und das „sacrificium intellectus" ausdrücklich als
lebensnotwendig und dem Schaffen förderlich bejahte, widerruft er nun auf
mehrfache Weise diese frühere Bereitschaft zum Selbstbetrug: erstens indem
er dagegen das „intellectuelle Gewissen" stellt (221, 30), zweitens indem er his-
torisch und psychologisch den nun überwundenen „Cultus" auf eine noch lan-
ge fortwirkende romantische Tradition zurückführt. Er exemplifiziert dies am
Beispiel des Napoleon-Kults, für den er den an Lord Byron beobachteten ro-
mantischen Habitus verantwortlich macht; dieser habe nicht nur bis zum
„Selbstbetrug" (222, 6), sondern sogar bis zur Selbstverkleinerung und Selbst-
negation geführt, die ans „Martyrium" grenzt (222, 8): „Menschen dieser Art
lebten zum Beispiel um Napoleon: ja vielleicht ist gerade er es, der die ro-
mantische dem Geiste der Aufklärung fremde Prostration [Geste des Sich-Nie-
derwerfens vor dem Angebeteten] vor dem ,Genie' und dem ,Heros' unserem
Jahrhundert in die Seele gegeben hat, er, vor dem ein Byron sich nicht zu sagen
schämte, er sei ein ,Wurm gegen solch ein Wesen'" (222, 9-15). N. zitiert aus
Byron o.J., 2. Bd, 145.
Anschließend an die auf Byron zurückgeführte romantische „Prostration
vor dem ,Genie' und dem ,Heros'" nennt N. noch Thomas Carlyle als Vertreter
derselben romantischen Geistesverfassung. Er habe dafür die „Formeln" gefun-
den, soll heißen: was Byron und andere eher poetisch ausdrückten, hat Carlyle
(1795-1881) theoretisch formuliert. Das Werk, in dem dieser am prägnantesten
das Thema traktierte, war die schon in ihrem Titel aussagekräftige Schrift On
Heroes and Hero-worship (1841); Carlyle, der stark vom deutschen Idealismus
beeinflusst war, fand in Deutschland großen Anklang, gerade auch mit dieser
Schrift, deren deutsche Übersetzung Über Helden, Heldenverehrung und das
Heldenthümliche zu N.s Lektüren gehörte. In seinem Buch Die Französische Re-
volution (1837) verstand Carlyle die Weltgeschichte als Werk der großen Per-
sönlichkeiten. Obwohl sich N. hier, dem antiromantisch-aufklärerischen Duk-
tus der Morgenröthe gemäß, kritisch vom Genie- und Heroenkult distanziert,
dem er selbst noch in seinen frühen Schriften gehuldigt hatte, war die ihm
zugrunde liegende Wertung keineswegs überwunden. Schon in mehreren Tex-
ten der Morgenröthe führt er ihn in anderer Form fort, indem er den unver-
wechselbaren „Einzelnen", das große „Individuum" heraushebt (vgl. vor allem
M 108). Vollends die spätere Rede vom „Übermenschen" und der Kult der star-
ken Individuen, die N. mit Jacob Burckhardt in der Renaissance bewunderte,
deutet auf substantielle Kontinuität trotz des Wechsels der Aspekte hin. Indem
N. am Ende von M 298 Carlyle einen „alten anmaasslichen Wirr- und Murrkopf"
nennt und von seinem „langen Leben" (222, 16 f.) spricht, spielt er zunächst auf
dessen hohes Alter an - er starb im gleichen Jahr, in dem N. seine Morgenröthe
vollendete, und war immer noch berühmt. Noch die Götzen-Dämmerung zeugt
 
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