Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0347
License: In Copyright

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
332 Morgenröthe

Wertung um. Er macht die „Wirklichkeit" (225, 6) zur eigentlichen Aufgabe des
Geschichtsschreibers, aber nur, um sie prinzipiell als „unergründlich" in „tie-
fen Nebeln" verschwinden zu lassen, so dass die Historiker „Phantome" von
etwas erzeugen, das letztlich nur in ihrer „Vorstellung" (225, 5-7) existiere. Das
Problem liegt in dem hier verwendeten Wirklichkeitsbegriff, dem zufolge es
„die" Wirklichkeit gibt, welche aber prinzipiell unzugänglich ist. Dieser Ansatz
ist noch von der seit Kant bekannten und von Schopenhauer im Anhang zu
seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung I: „Kritik der Kantischen
Philosophie" als größte Leistung Kants gerühmten Vorstellung von einem
„Ding an sich" mitbestimmt, gegen das N. seit seiner ,mittleren' Phase ansons-
ten gerne polemisiert. Besonders beschäftigten ihn die diesem Problemzusam-
menhang gewidmeten Werke von Afrikan Spir, die er in seiner persönlichen
Bibliothek besaß und intensiv studierte, wie die zahlreichen Randbemerkun-
gen und angestrichenen Stellen in seinen Exemplaren zeigen: Afrikan Spir:
Denken und Wirklichkeit. Versuch einer Erneuerung der kritischen Philosophie.
Erster Band: Das Unbedingte ( 1877); Afrikan Spir: Denken und Wirklichkeit.
Versuch einer Erneuerung der kritischen Philosophie. Zweiter Band: Die Welt der
Erfahrung (1877).
Da N. auch in der aktuellen Zeitströmung des „Realismus" steht (vgl. ins-
besondere NK Μ 433), beruft er sich in einer ganzen Reihe von Texten der
Morgenröthe auf die „Realität" und auf die „Wirklichkeit", obwohl er im vorlie-
genden Text erklärt, sie sei „unergründlich" und unzugänglich. Dass er den-
noch die Orientierung an der Realität programmatisch fordert, ist aus der
durchaus ,zeitgemäßen' antiidealistischen Grundtendenz seiner Werke seit der
Aphorismen-Sammlung Menschliches, Allzumenschliches zu erklären. N. para-
digmatisiert die Opposition von Ideal und Wirklichkeit, die schon Schopenhau-
er exponiert hatte (PP I: „Skitze [sic] einer Geschichte der Lehre vom Idealen
und Realen", Schopenhauer 1874, Bd. 5, 3-21), in der Götzen-Dämmerung, in-
dem er Platon und Thukydides einander gegenüberstellt. Rückblickend
schreibt er: „Meine Erholung, meine Vorliebe, meine Kur von allem Platonis-
mus war zu jeder Zeit Thukydides. Thukydides und, vielleicht, der principe
Macchiavell's sind mir selber am meisten verwandt durch den unbedingten
Willen, sich Nichts vorzumachen und die Vernunft in der Realität zu sehn"
(KSA 6, 156, 9-13) - ein unfreiwilliges Hegel-Echo (da für Hegel, allerdings
gerade im idealistischen Sinn, Realität und Vernunft dasselbe sind); alsbald
spitzt N. zu: „Der Muth vor der Realität unterscheidet zuletzt solche Naturen
wie Thukydides und Plato: Plato ist ein Feigling vor der Realität, - folglich
flüchtet er in's Ideal" (KSA 6, 156, 28-30). Am 13. November 1878 hatte er sei-
nen Verleger Ernst Schmeitzner um die Zusendung einer Thukydides-Edition
und eines Kommentars zu Thukydides gebeten (KSB 5/KGB II/5, Nr. 769). Wie
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften