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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0350
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Stellenkommentar Viertes Buch, KSA 3, S. 225-227 335

mentar S. 16 und Μ 26, wo er abschließend dafür plädiert, „das ganze morali-
sche Phänomen als thierhaft zu bezeichnen" (37, 27 f.).

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226, 27 Der nicht mehr erwünschte Freund.] Den biographischen Hin-
tergrund bilden N.s eigene Freundschaften, die manchmal durch einen radika-
len Schnitt von ihm beendet wurden. Vgl. Μ 287.

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227, 2 Aus der Gesellschaft der Denker.] Hier entwickelt N. Vorstellun-
gen, die er im letzten Text der Morgenröthe „Wir Luft-Schifffahrer des
Geistes!" (Μ 575) weiterführt. Allerdings reflektiert er noch die räumliche
und zeitliche Beschränktheit alles Denkens, folglich auch der „Denker": sie
leben nur auf einem „Inselchen": auf einem „kleinen Raume" (227, 9), und
„eine kleine Weile" (227, 5), ja nur eine „Minute der Erkenntniss" (227, 11). Da-
mit greift N. die Perspektive auf, die er im ersten Satz der nachgelassenen
Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne entworfen hatte:
„In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flim-
mernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere
das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der
,Weltgeschichte': aber doch nur eine Minute" (KSA 1, 875, 2-6).
Die Leitvorstellung der „Wandervögel", die sich mit „anderen Wandervö-
geln" für eine kleine Weile auf einem Inselchen niederlassen, metaphorisiert
nicht nur die geistige Unruhe des Denkers, sondern auch die innere Heimatlo-
sigkeit, die für die „Gesellschaft der Denker" insgesamt gilt. Dass N. sich in
einer Gesellschaft der Denker sieht, geht zunächst auf seine enge Kooperation
mit Paul Ree in der Zeit der Morgenröthe zurück, entspricht aber auch dem
wiederholt zum Ausdruck kommenden allgemeineren „Wir"-Gefühl der Frei-
denker und Freigeister, das seinen historischen Hintergrund in der gerade zu
dieser Zeit sich organisierenden Freidenker-Bewegung hat. Allerdings steht die
Beschwörung einer „Gesellschaft der Denker" in auffälliger Spannung zu der
ebenfalls in der Morgenröthe formulierten Höchstwertung des „Einzelnen", des
„Individuums" und des Individuellen (vgl. den Überblickskommenar S. 88 f.
und M 104, M 105, M 107, M 108). In seinen späten Schriften sieht sich N. ganz
als einsamen Vordenker, weit entfernt von allen andern. Schon bald, im Zara-
thustra, inszenierte er die abgehobene Propheten-Rolle.
 
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