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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0375
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360 Morgenröthe

geltende, sondern als seine ganz ihm persönlich angemessene Wahrheit: „ -
Still! / Meine Wahrheit ists!" (KSA 6, 408, 14 f.). Aus der nur dem Individuum
zukommenden „Moralität" erschließt sich auch die Titelformulierung von M
404 „Wem man selten gerecht wird", denn was „man" aufgrund allge-
meiner Wertungen beurteilt, kann dem ganz Eigenen (das N. in der Morgenrö-
the immer wieder betont) nur selten gerecht werden.

405
253, 24 Luxus.] Wie insbesondere die Wendung „das Überflüssige und Un-
mässige" verrät, denkt N. hier an Wagner, der zwar in seiner frühen, noch
von revolutionärem Geist erfüllten Hauptschrift Oper und Drama den Luxus
verdammt, später aber selbst einen ausgeprägten Hang zu luxuriöser Lebens-
führung und zu entsprechender Repräsentation zeigte. In einem nachgelasse-
nen Notat vom Jahr 1880, das z. T. wörtlich mit M 405 übereinstimmt, formu-
liert N. seine eigene, spezifische Ablehnung des Luxus: „Der Luxus ist erniedri-
gend für den Mann der Erkenntniß. Er ist nicht etwa bloß entbehrlich für ihn,
sondern er repräsentirt ein anderes Leben als das schlichte und heroi-
sche - und wirkt insofern auf die Phantasie lähmend und widersprechend"
(4[208], KSA 9, 152).

406
254, 2 Unsterblich machen.] Zum übergeordneten Thema der Auseinan-
dersetzung mit der Moral gehört auch das Gewissen samt den Gewissensbissen.
Darauf zielt die Überlegung, ob man einen Gegner, indem man ihn tötet, nicht
gerade dadurch „bei sich verewigt". Indirekt trifft dieses Bedenken das Pro-
blem, ob sich die von den Immoralisten und so auch von N. favorisierte Sicht
im Leben durchhalten lässt. Vgl. Dostojewskis Rodion Raskolnikow.

407
254, 6 Wider unsern Charakter.] Wie schon in M 404 erörtert, begreift N.
„Wahrheit" als lediglich individuell legitimiert und erst aus der individuellen
Eigenart beglaubigt, die er hier als „Charakter" bezeichnet. Deshalb erscheint
eine mit Wahrheitsanspruch versehene Äußerung als unglaubwürdig und er-
weckt „Misstrauen", wenn sie nicht mit dem Charakter zusammenstimmt.
 
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