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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0383
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368 Morgenröthe

verstanden, Voltaire den „Rokoko"-Stil der Philosophie kultiviert, sogar bis hin
zum Genre des philosophischen Wörterbuchs: in seinem witzigen, außeror-
dentlich erfolgreichen Dictionnaire philosophique portatif. N. diagnostiziert in
seiner Zeit die inzwischen dominierende Form eines „unterhaltsamen" Philoso-
phierens. N. selbst hatte schon früh eine Vorliebe für die spätantike „Bunt-
schriftstellerei" entwickelt, die einen durch Anekdoten und andere Einlagen
aufgelockerten Unterhaltungsstil bis in die philosophische Sphäre hinein kulti-
vierte; zu den von ihm herangezogenen Werken dieses Genres gehören diejeni-
gen des Diogenes Laertios, des Athenaios und des Stobaios. Das Konzept eines
„unterhaltsamen" Philosophierens weist auch bereits auf den Titel der nachfol-
genden Aphorismensammlung N.s voraus: „Die fröhliche Wissenschaft". Aus-
drücklich auf die Morgenröthe bezieht N. die „bunte" Darstellungsstrategie im
Brief an Heinrich Köselitz vom 9. Februar 1881: „Es sind so viele bunte und
namentlich rothe Farben darin!" Mit den „rothen Farben" spielt er zugleich auf
den Titel Morgenröthe an.
In der Vorstufe zu Μ 427 weist N. noch auf Comte hin: „Was die Rokoko-
Gartenkunst wollte, embellir la nature, und die Täuschung der Augen (durch
Tempel usw.), das wollen die Philosophen: Verschönerung der Wissenschaft
(Comte)." (KSA 14, 221)
428
264, 2 Zwei Arten Moralisten.] N. reflektiert hier seine eigene Stellung
zur Moralistik, indem er zwei verschiedene Arten von Moralisten zu unterschei-
den versucht. Bei der ersten Art, die mit feinem Gespür „die menschlichen Ge-
setze und Gewohnheiten" beobachtet, denkt er vor allem an Montaigne und La
Rochefoucauld. Der zweiten Art von Moralisten rechnet er sich selbst zu. Sie
wollen das Beobachtete „erklären" und verfahren „erfinderisch", mit
Phantasie. N. denkt besonders an seinen psychologischen „Scharfsinn", der
ihn nach seiner eigenen Einschätzung auszeichnet, und an seine besondere,
„erfinderische" Originalität. N. war immer darauf bedacht, sich vom Vorhande-
nen durch Betonung seiner Originalität und durch phantasievolle Einfälle ab-
zuheben. Doch ist die Trennung zwischen den bloß feinsinnig beobachtenden
und den scharfsinnig erklärenden Moralisten problematisch. Vgl. die weiter-
führende methodologische Reflexion in M 432. Im Hinblick auf „Scharfsinn"
und „Phantasie" diagnostiziert N. auch allgemeinere aktuelle Möglichkeiten.
In einem nachgelassenen Notat vom Jahr 1880 heißt es: „Bei unsern jetzigen
induktiven Forschern ist der Scharfsinn und die Vorsicht geist- und erfindungs-
reicher (auch phantasievoller) als bei den eigentlichen Philosophen (NL 1880,
4[138], KSA 9, 136).
 
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