Stellenkommentar Fünftes Buch, KSA 3, S. 267-269 375
rechnet, versteht er in Μ 356 als „Gefühl": als „Gefühl der Macht" (240,
22) - und ebenfalls als Ausdruck des „Glücks".
440
269, 4 Nicht entsagen!] Bereits in Μ 42 thematisiert N. die vita contempla-
tiva. Durch eine historisierende Spekulation führt er sie dort auf ein dekaden-
tes „müdes" Stadium zurück, während sich kraftvolles Leben in „Action" (49,
14) übersetze. Daher schließt er auf eine negative „Schätzung" zurück, „in der
das älteste Geschlecht contemplativer Naturen lebte", und
spricht sogar von einer „pudenda origo" - einem schämenswerten Ursprung
(50, 10-18). Dagegen kommt er in Μ 440 aufgrund der notwendigen „Einsam-
keit" des „Denkers" zu einer positiven Einschätzung des kontemplativen Le-
bens. Dementsprechend erscheint, wie vor ihm schon manchen anderen Philo-
sophen, das aktive, auf Praxis ausgerichtete Dasein, die „vita practica" (269,
10), nunmehr bloß als Hindernis der aus der inneren Notwendigkeit des Den-
kers resultierenden vita contemplativa, einer Notwendigkeit, die er in anderen
Texten dieses 5. Buches als „Leidenschaft der Erkenntnis" bezeichnet. N.
stimmt hier weitgehend mit der Wertung des sich in der „Theorie" erfüllenden
Daseins überein, die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik (1177 a 21-22) for-
muliert hatte. Auch findet sich bei Aristoteles schon der Ansatz für das von N.
in Μ 440 im Hinblick auf die vita contemplativa festgestellte Erfordernis der
„Einsamkeit" (269, 7). Im siebten Kapitel der Nikomachischen Ethik heißt es:
„der Weise kann sich, wenn er für sich [allein] ist, der Theorie widmen" (1177
a 32: ό δέ σοφός καί καθ' αύτόν ών δύναται θεωρεΐν). Besonders betont Aristo-
teles das Moment der „Autarkie", die den in der Sphäre der Theorie lebenden
Denker auszeichnet und zugleich sein höchstes Glück (εύδαιμονία) ausmacht.
Es lässt sich sogar ein Bezug zu der im 5. Buch der Morgenröthe immer wieder
exponierten „Leidenschaft des Erkennens" feststellen, wenn Aristoteles die
„Theorie" als Tätigkeit einer „Energie des Geistes" bezeichnet (τοϋ νοϋ
ένέργεια, Nikomachische Ethik 1177 b 19). In der Geburt der Tragödie und in
einer Reihe von nachgelassenen Notaten aus dieser Zeit hatte N. den Typus
des „theoretischen Menschen" noch ganz antiaristotelisch, weil negativ gewer-
tet; vgl. NK 1/1, 98, 7-10 u. 98, 11-23.
441
269, 14 Warum das Nächste uns immer ferner wird.] Im vorangehen-
den Text M 440 charakterisiert N. die „Einsamkeit" des Denkers, welcher der
rechnet, versteht er in Μ 356 als „Gefühl": als „Gefühl der Macht" (240,
22) - und ebenfalls als Ausdruck des „Glücks".
440
269, 4 Nicht entsagen!] Bereits in Μ 42 thematisiert N. die vita contempla-
tiva. Durch eine historisierende Spekulation führt er sie dort auf ein dekaden-
tes „müdes" Stadium zurück, während sich kraftvolles Leben in „Action" (49,
14) übersetze. Daher schließt er auf eine negative „Schätzung" zurück, „in der
das älteste Geschlecht contemplativer Naturen lebte", und
spricht sogar von einer „pudenda origo" - einem schämenswerten Ursprung
(50, 10-18). Dagegen kommt er in Μ 440 aufgrund der notwendigen „Einsam-
keit" des „Denkers" zu einer positiven Einschätzung des kontemplativen Le-
bens. Dementsprechend erscheint, wie vor ihm schon manchen anderen Philo-
sophen, das aktive, auf Praxis ausgerichtete Dasein, die „vita practica" (269,
10), nunmehr bloß als Hindernis der aus der inneren Notwendigkeit des Den-
kers resultierenden vita contemplativa, einer Notwendigkeit, die er in anderen
Texten dieses 5. Buches als „Leidenschaft der Erkenntnis" bezeichnet. N.
stimmt hier weitgehend mit der Wertung des sich in der „Theorie" erfüllenden
Daseins überein, die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik (1177 a 21-22) for-
muliert hatte. Auch findet sich bei Aristoteles schon der Ansatz für das von N.
in Μ 440 im Hinblick auf die vita contemplativa festgestellte Erfordernis der
„Einsamkeit" (269, 7). Im siebten Kapitel der Nikomachischen Ethik heißt es:
„der Weise kann sich, wenn er für sich [allein] ist, der Theorie widmen" (1177
a 32: ό δέ σοφός καί καθ' αύτόν ών δύναται θεωρεΐν). Besonders betont Aristo-
teles das Moment der „Autarkie", die den in der Sphäre der Theorie lebenden
Denker auszeichnet und zugleich sein höchstes Glück (εύδαιμονία) ausmacht.
Es lässt sich sogar ein Bezug zu der im 5. Buch der Morgenröthe immer wieder
exponierten „Leidenschaft des Erkennens" feststellen, wenn Aristoteles die
„Theorie" als Tätigkeit einer „Energie des Geistes" bezeichnet (τοϋ νοϋ
ένέργεια, Nikomachische Ethik 1177 b 19). In der Geburt der Tragödie und in
einer Reihe von nachgelassenen Notaten aus dieser Zeit hatte N. den Typus
des „theoretischen Menschen" noch ganz antiaristotelisch, weil negativ gewer-
tet; vgl. NK 1/1, 98, 7-10 u. 98, 11-23.
441
269, 14 Warum das Nächste uns immer ferner wird.] Im vorangehen-
den Text M 440 charakterisiert N. die „Einsamkeit" des Denkers, welcher der