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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0401
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386 Morgenröthe

reitschaft zur Anpassung hegt, nicht zuletzt im Hinblick auf die Bereitschaft
zum Selbstbetrug in der Liebe und in der Freundschaft. In einem nachgelasse-
nen Notat vom Herbst 1880 heißt es: „Bei der Liebesleidenschaft kann man
sehen, wie weit die Redlichkeit vor uns selber fehlt: ja man setzt das voraus
und gründet darauf die Ehe (mit Versprechen, wie sie kein Redlicher
gegen sich geben kann!) So früher bei der Treue von Untergebenen gegen
Fürsten oder gegen das Vaterland, oder die Kirche: man schwor die Redlichkeit
gegen sich feierlich ab!" (6[223], KSA 9, 256). In einem anderen nachgelassenen
Notat aus dieser Zeit bemerkt N.: „Größere Redlichkeit gegen uns selber hält
uns in Hut: gewöhnlich geben wir unseren zurückgehaltenen Trieben einmal
plötzlich nach, in dieser Liebe und Haß zu Personen" (NL 1880, 6[232], KSA
9, 259, 2-5). Und kurz darauf erörtert er die Möglichkeit, die „Triebe" so weit
zu überwinden, dass diese „größere Redlichkeit" zu erreichen ist: „Die Triebe
haben wir alle mit den Thieren gemein: das Wachsthum der Redlichkeit macht
uns unabhängiger von der Inspiration dieser Triebe. Diese Redlichkeit selber
ist das Ergebniß der intellektuellen Arbeit, namentlich wenn zwei entgegenge-
setzte Triebe den Intellekt in Bewegung setzen. Das Gedächtniß führt uns in
Bezug auf ein Ding oder eine Person bei einem neuen Affekt die Vorstellungen
zu, die dies Ding oder <diese> Person früher, bei einem anderen Affekt in uns
erregte: und da zeigen sich verschiedene Eigenschaften, sie zusammen gel-
ten lassen ist ein Schritt der Redlichkeit" (NL 1880, 6[234], KSA 9, 259).
So sehr bewegte N. dieses Thema, dass er in der Zeit, in der er an der
Morgenröthe arbeitete, den Plan für eine eigene Publikation hierzu notierte:
„Zur Geschichte der / Redlichkeit." (NL 1880, 6[457], KSA 9, 316), um
dann alsbald noch eine Titel-Variante hinzuzufügen: „Passio nova / oder /
Von der Leidenschaft der Redlichkeit" (NL 1880, 6[461], KSA 9, 316). N. versteht
Redlichkeit als Redlichkeit vor allem gegen sich selber: als eine kompromisslos
auf „Wahrhaftigkeit" bedachte Selbstkontrolle sowohl in den denkerischen
Vollzügen wie in den Wertungen, Verhaltensweisen und Wunschvorstellungen,
die N. „Ideale" nennt, schließlich als Bereitschaft zu einer experimentellen Of-
fenheit. In Μ 370 formuliert er unter der Überschrift „Inwiefern der Den-
ker seinen Feind liebt" - einer Überschrift, mit der er das christliche
Gebot der Feindesliebe travestiert —: „Nie Etwas zurückhalten oder dir ver-
schweigen, was gegen deinen Gedanken gedacht werden kann! Gelobe es dir!
Es gehört zur ersten Redlichkeit des Denkens. Du musst jeden Tag auch deinen
Feldzug gegen dich selber führen" (244, 17-21). In M 456 meint N.: „Man beach-
te doch, dass weder unter den sokratischen, noch unter den christlichen Tu-
genden die Redlichkeit vorkommt: dies ist eine der jüngsten Tugenden"
(275, 23-25). Mit der Idealfigur des Sokrates allerdings, den Platon in seinen
Dialogen zugleich als Tugend-Vorbild darstellt, verbindet sich ein denkerisches
 
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