474 Idyllen aus Messina
45-49). Bereits anderthalb Jahre später scheint N. jedoch gemeint zu haben,
einen solchen „Kompaß" endlich zu besitzen. So erklärt er in einem Brief vom
November 1872 an Hugo von Senger, „daß ich weder Musiker noch Dichter bin"
und verweist stattdessen entschieden auf „meine Eigenschaft als Philosoph"
(KSB 4/KGB ΙΙ/3, Nr. 273, S. 87, Z. 7-11). Tatsächlich wendet sich N. im folgen-
den Jahrzehnt - mit Ausnahme etwa des lyrisch ertragreichen Sommers 1877,
in dem die (noch titellosen) Erstfassungen der bekannten Rosenlauibad-Ge-
dichte Im deutschen November (NL 1877, 22 [93], KSA 8, 395, 16-396, 10) und
Am Gletscher (NL 1877, 22[94], KSA 8, 396, 11-397, 21) entstehen - verstärkt der
philosophischen Schriftstellerei zu und beschränkt seine poetische Produktion
auf einige Widmungsgedichte und Gelegenheitsverse.
Nahezu schlagartig ändert sich dies indes wieder ab Ende 1881/Anfang
1882; im unmittelbaren Vorfeld bzw. Umkreis der Arbeit an IM und FW entste-
hen in relativ kurzer Zeitspanne (bis Sommer 1882) außerordentlich viele Ge-
dichte und Gedichtentwürfe, die nur zum Teil in jene beiden Werke einfließen.
Schon in dieser Zeit bezeichnet sich N. in Briefen an seine Familie und Freunde
erneut explizit, wenn auch bisweilen nicht ohne Selbstironie als „Dichter".
Dasselbe gilt für sein Selbstverständnis als Autor des Zarathustra, dessen erste
Konzeption ja ebenfalls in jene Schaffensphase zurückreicht. N. selbst betrach-
tete Za - keineswegs nur im Blick auf die lyrischen ,Einlagen' - als ein großes
,Gedicht', wie beispielsweise aus dem Brief an Erwin Rohde vom 22. Februar
1884 hervorgeht, in dem im Zuge einer Charakterisierung des poetischen Stils
von Za uneingeschränkter Anspruch auf den Titel „Dichter" erhoben wird:
„Mein Stil ist ein Tanz; ein Spiel der Symmetrien aller Art und ein Übersprin-
gen und Verspotten dieser Symmetrien. Das geht bis in die Wahl der Vokale.
[...] Übrigens bin ich Dichter bis zu jeder Grenze dieses Begriffs geblieben,
ob ich mich schon tüchtig mit dem Gegentheil aller Dichterei tyrannisirt
habe." (KSB 6/KGB III/1, Nr. 490, S. 479 f.) Kommt in dieser Äußerung, welche
die Philosophie zur Gegenspielerin der Dichtung erklärt und die Beschäftigung
mit jener geradezu als masochistische Selbstquälerei erscheinen lässt, die be-
reits in FW 92 zur Sprache gebrachte fruchtbare Feindschaft zwischen philoso-
phischer Prosa und lyrischer Poesie in einer neuen Variante abermals zum
Ausdruck, so neigt N. wenig später gar dazu, im Rückblick die Lyrik als das
bessere, ihm angemessenere Ausdrucksmedium zu bevorzugen. Bekannt sind
die Worte, mit denen er gegen Ende seines Versuchs einer Selbstkritik in der
Neuausgabe von GT 1886 bedauert, in seiner Erstlingsschrift nicht als ,Sänger'
aufgetreten zu sein: „Sie hätte singen sollen, diese ,neue Seele' - und nicht
reden! Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dich-
ter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt!" (KSA 1, 15, 9-12)
Diese Formulierung, die Stefan George nicht von ungefähr am Schluss sei-
nes Nietzsche-Gedichts (Erstveröffentlichung 1901) in leicht abgewandelter
45-49). Bereits anderthalb Jahre später scheint N. jedoch gemeint zu haben,
einen solchen „Kompaß" endlich zu besitzen. So erklärt er in einem Brief vom
November 1872 an Hugo von Senger, „daß ich weder Musiker noch Dichter bin"
und verweist stattdessen entschieden auf „meine Eigenschaft als Philosoph"
(KSB 4/KGB ΙΙ/3, Nr. 273, S. 87, Z. 7-11). Tatsächlich wendet sich N. im folgen-
den Jahrzehnt - mit Ausnahme etwa des lyrisch ertragreichen Sommers 1877,
in dem die (noch titellosen) Erstfassungen der bekannten Rosenlauibad-Ge-
dichte Im deutschen November (NL 1877, 22 [93], KSA 8, 395, 16-396, 10) und
Am Gletscher (NL 1877, 22[94], KSA 8, 396, 11-397, 21) entstehen - verstärkt der
philosophischen Schriftstellerei zu und beschränkt seine poetische Produktion
auf einige Widmungsgedichte und Gelegenheitsverse.
Nahezu schlagartig ändert sich dies indes wieder ab Ende 1881/Anfang
1882; im unmittelbaren Vorfeld bzw. Umkreis der Arbeit an IM und FW entste-
hen in relativ kurzer Zeitspanne (bis Sommer 1882) außerordentlich viele Ge-
dichte und Gedichtentwürfe, die nur zum Teil in jene beiden Werke einfließen.
Schon in dieser Zeit bezeichnet sich N. in Briefen an seine Familie und Freunde
erneut explizit, wenn auch bisweilen nicht ohne Selbstironie als „Dichter".
Dasselbe gilt für sein Selbstverständnis als Autor des Zarathustra, dessen erste
Konzeption ja ebenfalls in jene Schaffensphase zurückreicht. N. selbst betrach-
tete Za - keineswegs nur im Blick auf die lyrischen ,Einlagen' - als ein großes
,Gedicht', wie beispielsweise aus dem Brief an Erwin Rohde vom 22. Februar
1884 hervorgeht, in dem im Zuge einer Charakterisierung des poetischen Stils
von Za uneingeschränkter Anspruch auf den Titel „Dichter" erhoben wird:
„Mein Stil ist ein Tanz; ein Spiel der Symmetrien aller Art und ein Übersprin-
gen und Verspotten dieser Symmetrien. Das geht bis in die Wahl der Vokale.
[...] Übrigens bin ich Dichter bis zu jeder Grenze dieses Begriffs geblieben,
ob ich mich schon tüchtig mit dem Gegentheil aller Dichterei tyrannisirt
habe." (KSB 6/KGB III/1, Nr. 490, S. 479 f.) Kommt in dieser Äußerung, welche
die Philosophie zur Gegenspielerin der Dichtung erklärt und die Beschäftigung
mit jener geradezu als masochistische Selbstquälerei erscheinen lässt, die be-
reits in FW 92 zur Sprache gebrachte fruchtbare Feindschaft zwischen philoso-
phischer Prosa und lyrischer Poesie in einer neuen Variante abermals zum
Ausdruck, so neigt N. wenig später gar dazu, im Rückblick die Lyrik als das
bessere, ihm angemessenere Ausdrucksmedium zu bevorzugen. Bekannt sind
die Worte, mit denen er gegen Ende seines Versuchs einer Selbstkritik in der
Neuausgabe von GT 1886 bedauert, in seiner Erstlingsschrift nicht als ,Sänger'
aufgetreten zu sein: „Sie hätte singen sollen, diese ,neue Seele' - und nicht
reden! Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dich-
ter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt!" (KSA 1, 15, 9-12)
Diese Formulierung, die Stefan George nicht von ungefähr am Schluss sei-
nes Nietzsche-Gedichts (Erstveröffentlichung 1901) in leicht abgewandelter