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78 Zur Genealogie der Moral

sophie lernen konnte, dezidiert ablehnend gegenüber dem Mitleid (Ethica IV,
propositio L): „Das Mitleid ist eine schmerzliche Empfindung, es gehört zu dem
Geschlecht der traurigen und ohnmächtigen Affecte und ist darum schlecht.
[...] Hier finden wir Kant in völliger Uebereinstimmung mit Spinoza; Schopen-
hauer aber im äußersten Gegensätze zu beiden." (Fischer 1865, 2, 497) In
MA I 50 wurde Francois VI. de La Rochefoucauld (und Platon) schon ausdrück-
lich als Zeuge gegen das Mitleid aufgerufen: „La Rochefoucauld trifft in der
bemerkenswerthesten Stelle seines Selbst-Portraits (zuerst gedruckt 1658) ge-
wiss das Rechte, wenn er alle Die, welche Vernunft haben, vor dem Mitleiden
warnt, wenn er räth, dasselbe den Leuten aus dem Volke zu überlassen, die
der Leidenschaften bedürfen (weil sie nicht durch Vernunft bestimmt werden),
um so weit gebracht zu werden, dem Leidenden zu helfen und bei einem Un-
glück kräftig einzugreifen; während das Mitleiden, nach seinem (und Plato's)
Urtheil, die Seele entkräfte." (KSA 2, 70, 7-16. Die fragliche Stelle findet sich
bei La Rochefoucauld o. J., 4) Immanuel Kant hat seine allerdings keineswegs
pauschale Kritik am ansteckenden und lähmenden Charakter des Mitleids in
der Tugendlehre seiner Metaphysik der Sitten (AA VI, 456 f.) formuliert. N. ist
ihr ebenfalls bei Kuno Fischer begegnet und hat sie glossierend exzerpiert (aus-
führlicher Nachweis in NK KSA 6, 173, 1-5). Vgl. zur Verteidigung von N.s Mit-
leidsmoralkritik z. B. Bamford 2007, zu den stoischen Hintergründen Nussbaum
1994.

6.
Die im letzten Abschnitt als zeittypisches und kritikwürdiges Phänomen cha-
rakterisierte Mitleidsmoral wirkte als Anlass, um dem „Wir" zur Artikulation
einer „neue[n] Forderung" zu verhelfen: „wir haben eine Kritik der morali-
schen Werthe nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst ein-
mal in Frage zu stellen — und dazu thut eine Kenntniss der Bedingungen
und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt
und verschoben haben" (253, 7-12). Die Einsicht in die Genese der Moral(en)
wird also als Voraussetzung ihrer Kritik angesehen: Geschichte delegitimiert
normative Ansprüche (vgl. die „kritische Historie" in UB II HL 3, KSA 1, 269 f.).
Die Beschreibung von „Moral als Ursache" (253, 14) und von „Moral als Folge"
(253, 12) schreibt sie in ein kausales Geschehen ein, das sich genealogisch re-
konstruieren lässt, wobei es wesentlich um die physiologische Dimension die-
ses Geschehens zu gehen scheint (vgl. Brusotti 2012a, 103). Am Ende von
GM Vorrede 6 ergibt sich daraus die Frage, ob die moderne Moral, das moderne
„Gute" ein Zeichen von Dekadenz darstellt und als „Gefahr der Gefahren" (253,
 
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