188 Zur Genealogie der Moral
gegeben? Die Antwort lautet: Keine noch so genaue Beobachtung der bewegten
Dinge lässt die Kraft wahrnehmen; und in dem einen Falle, wo wir Kraft wahr-
nehmen, nehmen wir sie nicht als Bewegendes wahr: das ist in unserer Kraft-
empfindung. Denn diese tritt wohl als ein die Bewegung unserer Glieder
begleitendes, nicht aber als ein sie bewirkendes Gefühl auf. Und selbst wenn
die Begleitung ein Vorangehen und die Bewegung ein Folgen wäre, so giebt
doch keine Erfahrung in der Welt den Punkt, wo die empfundene Kraft (d. h.
die Kraft als bestimmt qualificirte Empfindung) auf die Muskelbewegung ein-
wirkt. Von einem solchen Process haben wir gar keine Vorstellung — einfach
weil wir davon keine Erfahrung haben. Die Kraftempfindung und die Muskel-
bewegung sind völlig heterogen und daher kann auch nicht von der Empfin-
dung auf die Bewegung ein Schluss stattfinden, der die mangelnde Erfahrung
gültig ersetzte. / 81. Ebensowenig ferner, wie die Kraft als Bewegendes, erfah-
ren wir die Nothwendigkeit einer Bewegung. Mit der Kraft fällt die Noth-
wendigkeit; denn die Kraft ist das Zwingende, die Nothwendigkeit der Zwang.
Was wir erfahren, ist immer nur: dass Eines auf das Andere folgt — weder
Zwang erfahren wir noch Willkür, dass sie einander folgen. / 82. Sofern also
die Vorstellung der Causalität Kraft und Nothwendigkeit oder Zwang als in-
tegrirende Bestandtheile des Folgevorganges verlangt, fällt sie mit diesen. Ist
der Zwang zur Bestimmung eines Vorganges als ,causalen' nöthig, so wird
durch die Hineindenkung des Zwanges in den Folgevorgang erst die Causalität
geschaffen, kaum /46/ anders als wie der Fetischismus den beseelten Gegen-
stand erst schafft, indem er eine menschliche Seele hineindenkt; und wie dann
der Wilde den eingedachten Einfluss seines Fetischs dadurch zugleich begreift,
dass er den betreffenden Gegenstand beseelt gedacht hat, so erzeugt allerdings
auch die Hineindenkung der zwingenden Kraft ein gewisses Begreifen des Er-
zwungenseins der Folge — dies ist aber ebenfalls nur ein naives, anthropopa-
thisches, von dem des Wilden blos dem Grad, nicht dem Wesen nach verschie-
denes Begreifen. Denn das Bekannte, was ihm zu Grunde liegt, ist nur das
Gewohnheitsbekannte des mit Kraftgefühl verbundenen menschlichen Erzwin-
gens." (Avenarius 1876, 45 f.) Damit war N. sprachkritisch imprägniert, um der
naiven Rede von Kraft, Selbstbewegung oder Selbstverursachung äußerste Vor-
sicht entgegenzubringen (Secchi 1876, XI sagt beispielsweise, „dass jede Bewe-
gung durch eine Kraft verursacht wird". Vogt 1878 vermeidet eine solche
Sprechweise). Freilich scheint GM I 13 im nächsten Satz (vgl. NK 280, 4-11) das
erreichte sprachkritische Reflexionsniveau schon wieder aufgeben zu wollen.
Röttges 1972, 140, Fn. 34 findet parallele Überlegungen zu 279, 32-280, 3
in Hegels Phänomenologie des Geistes.
280, 3 f. das Atom ist zum Beispiel ein solcher Wechselbalg] Die Widersprüche
der „materialistischen Atomistik" ebenso wie diejenige der „Seelen-Atomistik"
soll JGB 12, KSA 5, 26 f. aufweisen, vgl. NK 5/1, S. 143-153.
gegeben? Die Antwort lautet: Keine noch so genaue Beobachtung der bewegten
Dinge lässt die Kraft wahrnehmen; und in dem einen Falle, wo wir Kraft wahr-
nehmen, nehmen wir sie nicht als Bewegendes wahr: das ist in unserer Kraft-
empfindung. Denn diese tritt wohl als ein die Bewegung unserer Glieder
begleitendes, nicht aber als ein sie bewirkendes Gefühl auf. Und selbst wenn
die Begleitung ein Vorangehen und die Bewegung ein Folgen wäre, so giebt
doch keine Erfahrung in der Welt den Punkt, wo die empfundene Kraft (d. h.
die Kraft als bestimmt qualificirte Empfindung) auf die Muskelbewegung ein-
wirkt. Von einem solchen Process haben wir gar keine Vorstellung — einfach
weil wir davon keine Erfahrung haben. Die Kraftempfindung und die Muskel-
bewegung sind völlig heterogen und daher kann auch nicht von der Empfin-
dung auf die Bewegung ein Schluss stattfinden, der die mangelnde Erfahrung
gültig ersetzte. / 81. Ebensowenig ferner, wie die Kraft als Bewegendes, erfah-
ren wir die Nothwendigkeit einer Bewegung. Mit der Kraft fällt die Noth-
wendigkeit; denn die Kraft ist das Zwingende, die Nothwendigkeit der Zwang.
Was wir erfahren, ist immer nur: dass Eines auf das Andere folgt — weder
Zwang erfahren wir noch Willkür, dass sie einander folgen. / 82. Sofern also
die Vorstellung der Causalität Kraft und Nothwendigkeit oder Zwang als in-
tegrirende Bestandtheile des Folgevorganges verlangt, fällt sie mit diesen. Ist
der Zwang zur Bestimmung eines Vorganges als ,causalen' nöthig, so wird
durch die Hineindenkung des Zwanges in den Folgevorgang erst die Causalität
geschaffen, kaum /46/ anders als wie der Fetischismus den beseelten Gegen-
stand erst schafft, indem er eine menschliche Seele hineindenkt; und wie dann
der Wilde den eingedachten Einfluss seines Fetischs dadurch zugleich begreift,
dass er den betreffenden Gegenstand beseelt gedacht hat, so erzeugt allerdings
auch die Hineindenkung der zwingenden Kraft ein gewisses Begreifen des Er-
zwungenseins der Folge — dies ist aber ebenfalls nur ein naives, anthropopa-
thisches, von dem des Wilden blos dem Grad, nicht dem Wesen nach verschie-
denes Begreifen. Denn das Bekannte, was ihm zu Grunde liegt, ist nur das
Gewohnheitsbekannte des mit Kraftgefühl verbundenen menschlichen Erzwin-
gens." (Avenarius 1876, 45 f.) Damit war N. sprachkritisch imprägniert, um der
naiven Rede von Kraft, Selbstbewegung oder Selbstverursachung äußerste Vor-
sicht entgegenzubringen (Secchi 1876, XI sagt beispielsweise, „dass jede Bewe-
gung durch eine Kraft verursacht wird". Vogt 1878 vermeidet eine solche
Sprechweise). Freilich scheint GM I 13 im nächsten Satz (vgl. NK 280, 4-11) das
erreichte sprachkritische Reflexionsniveau schon wieder aufgeben zu wollen.
Röttges 1972, 140, Fn. 34 findet parallele Überlegungen zu 279, 32-280, 3
in Hegels Phänomenologie des Geistes.
280, 3 f. das Atom ist zum Beispiel ein solcher Wechselbalg] Die Widersprüche
der „materialistischen Atomistik" ebenso wie diejenige der „Seelen-Atomistik"
soll JGB 12, KSA 5, 26 f. aufweisen, vgl. NK 5/1, S. 143-153.