Stellenkommentar GM II 3, KSA 5, S. 295-296 253
weisen in Nietzsche 1998, 141 zu Recht darauf hin, dass die ungewöhnliche
Wendung „bei Gedächtniss" in Analogie zu „bei Verstand" oder „bei Sinnen"
konstruiert sei. Entgegen der Behauptung von Clark und Swensen handelt es
sich jedoch nicht um eine sprachliche Neuschöpfung N.s in GM. Er hatte sich
ihrer bereits in der Basler Vorlesung Der Gottesdienst der Griechen bedient, als
er über gestiftete Kultheiligtümern sprach: „Was bedeutet nun da der Priester?
Er erinnert an den persönlichen Verkehr des Gottes mit den Menschen an
dieser Stelle, er unterhält im Opfer diesen Verkehr, in einer Art von Liebes-
mahl, er macht den einmaligen Gnadenakt (beim mythischen Ereigniß) zu ei-
nem ewigen u. unvergeßlichen, erhält die Gottheit bei Gedächtniß über das,
was sie damals gelobt." (KGW II 5, 462, 10-15) Die Wendung „bei Gedächtnis"
scheint besonders in der Zeitschriftenliteratur Mitte des 19. Jahrhunderts durch-
aus verbreitet gewesen zu sein, so in einer historischen Erzählung, die in Au-
gust Lewalds Zeitschrift Europa 1840 abgedruckt wurde (,„Ach wenn er nur
noch lebt und noch bei Gedächtniß ist.'" - [Anonym] 1840, 2, 362), oder in
einer Opernkritik, die der Schriftsteller Bernhard Gutt für die von ihm mitredi-
gierte Bohemia von 1845 schrieb („Was kann man über die Oper ,Lucrezia Bor-
gia', über ,Christoph und Renate' und den ,Wittwer' sagen? daß jener nicht
ganz bei Stimme, dieser nicht ganz bei Gedächtniß war" - Gutt 1845, unpag.
Bl. 2 recto), sowie schließlich in Friedrich Wilhelm Bruckbräus Übersetzung
des Romans Les Quarante-cinq von Alexandre Dumas d. Ä. (,„Es scheint, Sire,
daß Eure Majestät heute bei Gedächtniß ist; dieß ist aber wahrhaftig nicht für
Jedermann ein Glück.'" - Dumas 1847, 1, 167. Das französische Original lautet:
„II parait, sire, que Votre Majeste est en memoire aujourd'hui; mais, en verite,
ce n'est pas heureux pour tout le monde." http://www.gutenberg.org/cache/
epub/7770/pg7770.html, abgerufen am 24. 02. 2018). Vielleicht hat N., der die
genannten Belegstellen kaum gekannt haben dürfte, auch selbst die französi-
sche Wendung „en memoire" (die er z. B. bei Richet 1884, 195 finden konnte)
mit „bei Gedächtniss" übersetzt - oder die beispielsweise bei Diderot geläufige
Wendung „ä memoire" (Diderot 1875, 369).
Zur Interpretation von 296, 5-7 vgl. z. B. Rohrmoser 1982, 346; Bung 2007,
124 u. Hilt 2010, 224 f.
296, 12-17 Wir Deutschen betrachten uns gewiss nicht als ein besonders grausa-
mes und hartherziges Volk, noch weniger als besonders leichtfertig und in-den-
Tag-hineinleberisch; aber man sehe nur unsre alten Strafordnungen an, um da-
hinter zu kommen, was es auf Erden für Mühe hat, ein „ Volk von Denkern" heran-
zuzüchten] Dass das „Wir" sich scheinbar mit den Deutschen identifiziert, die
in N.s Schriften sonst wiederholt Zielscheibe des Spottes sind (vgl. z. B. GD
Was den Deutschen abgeht), kann nur dann überraschen, wenn man 296, 12
unironisch liest. In 296, 21 wird die Überlegung fortgesponnen unter Verwen-
weisen in Nietzsche 1998, 141 zu Recht darauf hin, dass die ungewöhnliche
Wendung „bei Gedächtniss" in Analogie zu „bei Verstand" oder „bei Sinnen"
konstruiert sei. Entgegen der Behauptung von Clark und Swensen handelt es
sich jedoch nicht um eine sprachliche Neuschöpfung N.s in GM. Er hatte sich
ihrer bereits in der Basler Vorlesung Der Gottesdienst der Griechen bedient, als
er über gestiftete Kultheiligtümern sprach: „Was bedeutet nun da der Priester?
Er erinnert an den persönlichen Verkehr des Gottes mit den Menschen an
dieser Stelle, er unterhält im Opfer diesen Verkehr, in einer Art von Liebes-
mahl, er macht den einmaligen Gnadenakt (beim mythischen Ereigniß) zu ei-
nem ewigen u. unvergeßlichen, erhält die Gottheit bei Gedächtniß über das,
was sie damals gelobt." (KGW II 5, 462, 10-15) Die Wendung „bei Gedächtnis"
scheint besonders in der Zeitschriftenliteratur Mitte des 19. Jahrhunderts durch-
aus verbreitet gewesen zu sein, so in einer historischen Erzählung, die in Au-
gust Lewalds Zeitschrift Europa 1840 abgedruckt wurde (,„Ach wenn er nur
noch lebt und noch bei Gedächtniß ist.'" - [Anonym] 1840, 2, 362), oder in
einer Opernkritik, die der Schriftsteller Bernhard Gutt für die von ihm mitredi-
gierte Bohemia von 1845 schrieb („Was kann man über die Oper ,Lucrezia Bor-
gia', über ,Christoph und Renate' und den ,Wittwer' sagen? daß jener nicht
ganz bei Stimme, dieser nicht ganz bei Gedächtniß war" - Gutt 1845, unpag.
Bl. 2 recto), sowie schließlich in Friedrich Wilhelm Bruckbräus Übersetzung
des Romans Les Quarante-cinq von Alexandre Dumas d. Ä. (,„Es scheint, Sire,
daß Eure Majestät heute bei Gedächtniß ist; dieß ist aber wahrhaftig nicht für
Jedermann ein Glück.'" - Dumas 1847, 1, 167. Das französische Original lautet:
„II parait, sire, que Votre Majeste est en memoire aujourd'hui; mais, en verite,
ce n'est pas heureux pour tout le monde." http://www.gutenberg.org/cache/
epub/7770/pg7770.html, abgerufen am 24. 02. 2018). Vielleicht hat N., der die
genannten Belegstellen kaum gekannt haben dürfte, auch selbst die französi-
sche Wendung „en memoire" (die er z. B. bei Richet 1884, 195 finden konnte)
mit „bei Gedächtniss" übersetzt - oder die beispielsweise bei Diderot geläufige
Wendung „ä memoire" (Diderot 1875, 369).
Zur Interpretation von 296, 5-7 vgl. z. B. Rohrmoser 1982, 346; Bung 2007,
124 u. Hilt 2010, 224 f.
296, 12-17 Wir Deutschen betrachten uns gewiss nicht als ein besonders grausa-
mes und hartherziges Volk, noch weniger als besonders leichtfertig und in-den-
Tag-hineinleberisch; aber man sehe nur unsre alten Strafordnungen an, um da-
hinter zu kommen, was es auf Erden für Mühe hat, ein „ Volk von Denkern" heran-
zuzüchten] Dass das „Wir" sich scheinbar mit den Deutschen identifiziert, die
in N.s Schriften sonst wiederholt Zielscheibe des Spottes sind (vgl. z. B. GD
Was den Deutschen abgeht), kann nur dann überraschen, wenn man 296, 12
unironisch liest. In 296, 21 wird die Überlegung fortgesponnen unter Verwen-