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Stellenkommentar GM II 4, KSA 5, S. 296 257

296, 34-297, 2 Mit Hülfe solcher Bilder und Vorgänge behält man endlich fünf,
sechs „ich will nicht" im Gedächtnisse] Es ist also in der beschriebenen archai-
schen Gedächtnispolitik nicht (zwingend) nötig, die entsprechenden grausa-
men Prozeduren am eigenen Leib zu erfahren, um sich zu erinnern (die Proze-
duren zielen ohnehin auf einen terminalen Zustand ab, in dem man sich, weil
tot, nicht mehr wird erinnern können). Es reicht, diese Prozeduren in Form von
„Bildern" oder ,Perfomances' - etwa einer öffentlichen Hinrichtung - vor Au-
gen geführt zu bekommen: Abschreckung und Konditionierung durch bildlich
veranschaulichte Drohung (vgl. NK 295, 14 f. u. dort Dumont 1876, 56, der in
extrem abgekürzter Form eine ähnliche Theorie vertritt) statt einer durch direk-
te physische Gewalteinwirkung (Folter, Schläge etc.) bewirkten, leiblichen Ver-
änderung. Letztere findet angesichts der grausamen Hinrichtung Dritter allen-
falls durch bloße Sinneswahrnehmung statt. Dass die Angst vor physischem
Schmerz sogar zu einer rückwirkenden Verstärkung von Erinnerungen führen
kann, legen übrigens neue neurobiologische Elektroschock-Experimente nahe,
siehe Dunsmoor/Murty/Davachi/Phelps 2015.

4.
Während GM II 3 mit dem guten, stolzen Gewissen der souveränen Individuen
seinen Einsatz gab und im Fortgang die gedächtnismachenden Strafpraktiken
erörterte, stellt GM II 4 das „ganze ,schlechte Gewissen"', nämlich „das Be-
wusstsein der Schuld" (297, 12 f.) an den Anfang, um die Erkundigung nach
dessen Herkunft als Forschungsaufgabe zu profilieren, und zwar gegen die nai-
ven bisherigen „Genealogen der Moral" (297, 14 f.), die die eigentlichen Zusam-
menhänge nicht durchschaut hätten. Wesentlich für den Fortgang ist die un-
ausgesprochene Prämisse, dass sich dieses moralisch(-religiös)e Schuldbe-
wusstsein nicht von selbst versteht, und zwar erstens, weil sich Erinnerung
nicht von selbst versteht - wer sich seiner vergangenen Verfehlungen nicht
entsinnt, kann auch kein schlechtes Gewissen haben -; und zweitens, weil
sich das Konzept moralischer Schuld nicht von selbst versteht. Bei letzterem
setzt GM II 4 mit einer ersten Hypothese an, dass nämlich die Vorstellung mo-
ralischer Schuld aus der Realität ökonomischer Schulden herkomme. Eine
zweite Hypothese besagt, dass „Strafe als eine Vergeltung" (297, 25 f.) sich
völlig unabhängig von der Frage entwickelt habe, ob eine Strafe heischende
Tat aus freiem oder unfreiem Willen geschehen sei. Moralgeschichte wird also
mit Rechtsgeschichte enggeführt und der metaphysischen Vorurteile entklei-
det, die sie unter Moralgenealogen gewöhnlich umhüllen. Die längste Zeit über
sei gestraft worden nicht, „weil man den Übelanstifter für seine That verant-
 
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