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266 Zur Genealogie der Moral

steht" (300, 2-4). Um einen allgemeinen Nutzen, einen gesamtgesellschaftli-
chen Zweck geht es also bei der „,Strafe"' (300, 6) keineswegs - dies wird
den englischen Moralgenealogen damit ins Gedächtnis gerufen, ohne dass sie
genannt werden müssten (vgl. Valverde 2005, 78). Und der Gläubiger ist
GM II 5 zufolge keineswegs der naturwüchsig Starke, Privilegierte und Vorneh-
me. Vielmehr greift die Schuldenwirtschaft verändernd in die gesellschaftli-
chen Hierarchien ein, gewinnt der Gläubiger nun doch Anteil „an einem Her-
ren-Rechte" (300, 7), was für ihn nur dann verlockend ist, wenn er nicht
schon über ein quasi natürliches Gewalt- und Grausamkeitsprivileg verfügt.
GM II 5 zeigt, wie ökonomische Macht sich von politisch-militärischer Macht
emanzipiert: Die Gläubiger bilden keine Personalunion mit den Kriegern und
Adligen, sondern stehen - militärisch-politisch anfangs noch ohnmächtig -
diesen gegenüber. Das wiederum bedeutet, dass auch in der menschlichen
Frühzeit Besitz offenbar nicht von den militärisch-politischen Machthabern hat
monopolisiert werden können, sondern, dass andere - Händler, Kaufleute? -
ökonomisch dominant wurden. Das Obligationenrecht bringt also in der Re-
konstruktion von GM II 5 ein Auseinanderstreben verschiedener Macht-Arten;
offensichtlich gab es schon sehr früh keine politisch-militärisch-ökonomische
Macht-Einheit der „Herren" mehr. Dieser Befund stellt allerdings diejenigen
Varianten der Geschichtserzählung aus GM I in Frage, denen zufolge erst eine
sklavenmoralische Revolte die hierarchische Schichtung der Gesellschaft und
die Dominanz der Vornehmen hintertrieben hätte. Folgt man hingegen GM II
darin, im Schuldner-Gläubiger-Verhältnis eine ganz ursprüngliche soziale Be-
ziehung zu sehen, mit deren Hilfe das „Menschen-Thier" (GM II 3, KSA 5, 7)
überhaupt erst aktives Erinnerungsvermögen - etwas im Gedächtnis behalten
zu wollen und zu sollen - antrainiert wurde, ist die Subversion des ursprüngli-
chen, hierarchischen Sozialgefüges schon in den frühesten Anfängen angelegt,
bald - mit dem Recht, weh zu tun - auch verwirklicht. Kommt die Ökonomie
ins Spiel - und das tut sie nach GM II 4, KSA 5, 298, 21-26, sofern es überhaupt
zwischenmenschliche Beziehungen gibt -, scheint die Umwertung der Werte,
der Sturz der militärisch-politischen Herren schon vollzogen (vgl. NK ÜK
GM II 8).
299, 3-10 Der Schuldner, um Vertrauen für sein Versprechen der Zurückbezah-
lung einzuflössen, um eine Bürgschaft für den Ernst und die Heiligkeit seines
Versprechens zu geben, um bei sich selbst die Zurückbezahlung als Pflicht, Ver-
pflichtung seinem Gewissen einzuschärfen, verpfändet Kraft eines Vertrags dem
Gläubiger für den Fall, dass er nicht zahlt, Etwas, das er sonst noch „besitzt",
über das er sonst noch Gewalt hat, zum Beispiel seinen Leib] Die Vorlage dafür
liefert - siehe schon Thatcher 1989, 591 - Josef Kohlers Broschüre Das Recht
als Kulturerscheinung, wo es z. B. heißt: „Greifen wir aus der reichen Zahl der
 
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