Stellenkommentar GM II 17, KSA 5, S. 324 355
sehen Gestaltungswillen sowie über die Fähigkeit, diesen in die Tat einer
Staatsgründung umzusetzen.
Ob sie historisch tatsächlich plausible Figuren sind - welche historischen
Beispiele es für solche Erobererstämme gibt, denen es nach schnellen Gebiets-
gewinnen gelungen wäre, eine dauerhafte, völlig eigenständige und autoritäre
politische Ordnung zu etablieren, ohne lokale Eliten weitreichend einzubin-
den -, darf der Kommentator dahingestellt lassen. Wichtig ist die Bemerkung,
diese Machtkünstler seien mit ihrem unbändigen Formungswillen nicht die
ersten Opfer des schlechten Gewissens gewesen - eine solche Vermutung hätte
GM II 16 noch nahelegen können -, sondern erst als Umlenker der Affektener-
gie bei ihren neuen Untertanen zu Verursachern des schlechten Gewissens ge-
worden. Die „Halbthiere[.]" (GM II 16, KSA 5, 322, 6), die dem schlechten Gewis-
sen anheimfallen, sollen also keine blonden Bestien gewesen sein, sondern im
Vergleich zu diesen Raubtiermenschen bereits schwächere, unterlegene Indivi-
duen, das Gros der Menschheit?
Lawtoo 2008, 686 f. gibt zu bedenken, dass die in GM II 17 erzeugte Vorstel-
lung, die Menschen seien eine rohe, ungeformte Masse, bis sie in die gestalten-
den Hände der Eroberer-Künstler gerieten, nicht als historisch adäquate Be-
schreibung zu verstehen sei. Eine genaue Analyse von GM II 17 auf dem Hinter-
grund des Versuchs von GM, sich auch im Blick auf die Staatsentstehung von
Dührings Rache-Theorie abzusetzen, gibt Brusotti 1992b, 101-103.
324, 15-26 dass der älteste „Staat" demgemäss als eine furchtbare Tyrannei,
als eine zerdrückende und rücksichtslose Maschinerie auftrat und fortarbeitete,
bis ein solcher Rohstoff von Volk und Halbthier endlich nicht nur durchgeknetet
und gefügig, sondern auch geformt war. Ich gebrauchte das Wort „Staat": es
versteht sich von selbst, wer damit gemeint ist — irgend ein Rudel blonder Raub-
thiere, eine Eroberer- und Herren-Rasse, welche, kriegerisch organisirt und mit
der Kraft, zu organisiren, unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf eine der Zahl
nach vielleicht ungeheuer überlegene, aber noch gestaltlose, noch schweifende
Bevölkerung legt.] Theorien von einer ursprünglichen gewaltsamen Kultur- und
Staatsentstehung waren N. aus diversen Lektüren geläufig, so beispielsweise
aus Otto Casparis Urgeschichte der Menschheit (Caspari 1877, 1, 229-234) oder
Friedrich von Hellwalds Culturgeschichte (Hellwald 1876a-1877a, 1, 172-180),
siehe die Quellenauszüge in NK KSA 5, 205, 20-206, 10 und zur Herren-Rasse
NK 264, 2-9. Das Substantiv „Staat" kommt in GM zum ersten Mal in diesem
Abschnitt vor; die Anführungszeichen dienen sowohl der Hervorhebung wie
der Distanzierung, und zwar der Distanzierung in doppeltem Sinne: Zum einen
ist dieses ursprüngliche Gebilde kein Staat im modernen Sinne, obwohl der
Gesichtspunkt der funktionalen Ausdifferenzierung gleich ausdrücklich er-
wähnt wird (325, 6 f.); zum anderen ist der Staat in all seinen Erscheinungsfor-
sehen Gestaltungswillen sowie über die Fähigkeit, diesen in die Tat einer
Staatsgründung umzusetzen.
Ob sie historisch tatsächlich plausible Figuren sind - welche historischen
Beispiele es für solche Erobererstämme gibt, denen es nach schnellen Gebiets-
gewinnen gelungen wäre, eine dauerhafte, völlig eigenständige und autoritäre
politische Ordnung zu etablieren, ohne lokale Eliten weitreichend einzubin-
den -, darf der Kommentator dahingestellt lassen. Wichtig ist die Bemerkung,
diese Machtkünstler seien mit ihrem unbändigen Formungswillen nicht die
ersten Opfer des schlechten Gewissens gewesen - eine solche Vermutung hätte
GM II 16 noch nahelegen können -, sondern erst als Umlenker der Affektener-
gie bei ihren neuen Untertanen zu Verursachern des schlechten Gewissens ge-
worden. Die „Halbthiere[.]" (GM II 16, KSA 5, 322, 6), die dem schlechten Gewis-
sen anheimfallen, sollen also keine blonden Bestien gewesen sein, sondern im
Vergleich zu diesen Raubtiermenschen bereits schwächere, unterlegene Indivi-
duen, das Gros der Menschheit?
Lawtoo 2008, 686 f. gibt zu bedenken, dass die in GM II 17 erzeugte Vorstel-
lung, die Menschen seien eine rohe, ungeformte Masse, bis sie in die gestalten-
den Hände der Eroberer-Künstler gerieten, nicht als historisch adäquate Be-
schreibung zu verstehen sei. Eine genaue Analyse von GM II 17 auf dem Hinter-
grund des Versuchs von GM, sich auch im Blick auf die Staatsentstehung von
Dührings Rache-Theorie abzusetzen, gibt Brusotti 1992b, 101-103.
324, 15-26 dass der älteste „Staat" demgemäss als eine furchtbare Tyrannei,
als eine zerdrückende und rücksichtslose Maschinerie auftrat und fortarbeitete,
bis ein solcher Rohstoff von Volk und Halbthier endlich nicht nur durchgeknetet
und gefügig, sondern auch geformt war. Ich gebrauchte das Wort „Staat": es
versteht sich von selbst, wer damit gemeint ist — irgend ein Rudel blonder Raub-
thiere, eine Eroberer- und Herren-Rasse, welche, kriegerisch organisirt und mit
der Kraft, zu organisiren, unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf eine der Zahl
nach vielleicht ungeheuer überlegene, aber noch gestaltlose, noch schweifende
Bevölkerung legt.] Theorien von einer ursprünglichen gewaltsamen Kultur- und
Staatsentstehung waren N. aus diversen Lektüren geläufig, so beispielsweise
aus Otto Casparis Urgeschichte der Menschheit (Caspari 1877, 1, 229-234) oder
Friedrich von Hellwalds Culturgeschichte (Hellwald 1876a-1877a, 1, 172-180),
siehe die Quellenauszüge in NK KSA 5, 205, 20-206, 10 und zur Herren-Rasse
NK 264, 2-9. Das Substantiv „Staat" kommt in GM zum ersten Mal in diesem
Abschnitt vor; die Anführungszeichen dienen sowohl der Hervorhebung wie
der Distanzierung, und zwar der Distanzierung in doppeltem Sinne: Zum einen
ist dieses ursprüngliche Gebilde kein Staat im modernen Sinne, obwohl der
Gesichtspunkt der funktionalen Ausdifferenzierung gleich ausdrücklich er-
wähnt wird (325, 6 f.); zum anderen ist der Staat in all seinen Erscheinungsfor-