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362 Zur Genealogie der Moral

325, 32-326, 1 im „Labyrinth der Brust", um mit Goethe zu reden) Die letzten
beiden der neun Strophen von Goethes Gedicht An den Mond in der zweiten
Fassung lauten: „Selig, wer sich vor der Welt / Ohne Haß verschließt, / Einen
Freund am Busen hält / Und mit dem genießt! // Was von den Menschen nicht
gewußt, / Oder nicht bedacht, / Durch das Labyrinth der Brust / Wandelt in
der Nacht." (Goethe 1853-1858, 1, 81) Diese beiden letzten Strophen hat der
Schüler N. - ohne sie voneinander zu trennen und ohne Gedichttitel, zusam-
men mit drei weiteren Goethe-Versen sowie zwei Gedichten von Herder und
Hölderlin - vielleicht aus einer Anthologie - abgeschrieben (NL 1863, KGW I 3,
15A[3], 222), so dass fraglich ist, ob N. tatsächlich das ganze Gedicht geläufig
war. Alle drei Gedichte werden, allerdings vollständig und mit Titeln, beispiels-
weise in Wilhelm Wackernagels Deutschem Lesebuch abgedruckt (Wackernagel
1840, 2, 944 [Herder], 1025 [Goethe] und 1253 [Hölderlin]). Die in GM II 18 expli-
zit als Zitat ausgewiesene Wendung ruft N. auch schon - allerdings ohne sie
als Zitat kenntlich zu machen - in UB III SE 3 auf, wo von den einsamen Philo-
sophen die Rede ist, die den Tyrannen und der Öffentlichkeit verhasst seien,
„denn die Philosophie eröffnet dem Menschen ein Asyl, wohin keine Tyrannei
dringen kann, die Höhle des Innerlichen, das Labyrinth der Brust" (KSA 1, 354,
1-3). Der Funktionalisierungskontext ist dort also ein gänzlich anderer: Die er-
habene Innerlichkeit der Philosophen wird mit einer Klassiker-Sentenz illus-
triert, die dechiffrieren kann, wer zu den einsamen Erwählten gehört. „Laby-
rinth der Brust" steht für das freiwillige, dem Zugriff Unberufener entzogene
Refugium des Geistes und damit für den Stolz intellektueller Selbstbehauptung
(vgl. dazu auch Leibrich 1983, 321 u. Gerhardt 1996, 106). In GM II 18 ist dieses
innere Labyrinth hingegen zum Austragungsort jener Affekte geworden, für die
es in der Welt keinen Raum gibt - wenn die „aktive Kraft" (325, 29) schwindet
oder bereits „kleiner, kleinlicher" (325, 31) ist, nistet sie sich dort faute de mieux
ein und brütet schlechtes Gewissen aus. Nimmt man an, dass N. nicht nur ein
paar Zeilen des Gedichtes, sondern auch dessen Entstehungskontext gekannt
hat, nämlich den Suizid eines unbekannten Mädchens, das sich mit Goethes
Werther in der Tasche in der Ilm ertränkt hat, dann weitet sich der Deutungsho-
rizont: Die Metapher vom „Labyrinth der Brust" könnte dann verstanden wer-
den als „anschauliches Beispiel für die Dynamik der Triebe und der Kräfte auch
in Bezug auf die historisch-anthropologische Perspektive der ,Verinnerlichung'
[...] (als gehemmte Entladung, die der inneren Welt Tiefe und Breite verleiht)"
(Vivetta Vivarelli in einem Brief an den Verf., 23. 10. 2017). Zu Goethes An den
Mond im minotaurischen Labyrinth von Leiris und N. siehe Benne 2009, 185,
ferner Brock 2012, 189 f.
326, 2 f. jener Instinkt der Freiheit (in meiner Sprache geredet: der Wille
zur Macht)] Vgl. NK 325, 20-25, NK ÜK GM II 12 u. NK 314, 16-23. Es fällt auf,
 
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