364 Zur Genealogie der Moral
selbst, weil von psychischer Selbstzerfleischung entstellt, als widerwärtig,
eben hässlich wahr und projiziert das Schöne nach außen. Die Frage von 326,
19-22 legt nahe, dass erst dadurch, dass in ihrem Triebhandeln nach innen
umgelenkte Individuen sich selbst verabscheuten, überhaupt so etwas wie
Schönheitsbewusstsein und die Produktion von schönen Kunstwerken in die
Welt kamen: Wer mit sich völlig eins ist und sich nicht als hässlich empfindet,
muss nichts Schönes erdenken oder erschaffen.
326, 27 zweifle] Fälschlich heißt es in KSA 5, 326, 27: „zweiflle". Das ist ein
Druckfehler; in der Erstausgabe steht: „zweifle" (Nietzsche 1887a, 82).
326, 30 f. Soviel vorläufig zur Herkunft des „Unegoistischen" als eines morali-
schen Werthes] Dass das „Unegoistische" moralisch geboten sei, hat bereits der
Sprecher in GM Vorrede 5 als nihilistische Sicht zurückgewiesen und sich damit
sowohl von Schopenhauer als auch von Ree schroff distanziert, vgl. NK 252, 4-
9. Wenn GM II 18 darauf zurückkommt, dann um den Nachweis zu führen, dass
dieses Unegoistische nicht, wie Ree mutmaßte, etwas Ursprüngliches, sondern
etwas historisch, unter dem Einfluss von Unterdrückung Gewordenes ist: „erst
das schlechte Gewissen, erst der Wille zur Selbstmisshandlung giebt die Vo-
raussetzung ab für den Werth des Unegoistischen. —" (326, 32-327, 2) In der
hier rekonstruierten Trieb- und Affektlogik bejaht das Individuum also ur-
sprünglich sein eigenes Wollen, die Durchsetzung seiner eigenen Interessen,
seinen „Instinkt der Freiheit" (326, 2). Die durch die situativen Umstän-
de der Fremdherrschaft erzeugte Unfähigkeit, diesen Instinkt gegen andere
und anderes auszuagieren, soll nun dazu geführt haben, dass sich dieses akti-
ve Vermögen als Lust an der Grausamkeit gegen einen selbst richtet. Die Lust
an der Grausamkeit zielt nach dieser Lesart auf die Vernichtung jenes Selbst,
das doch Träger von nichts anderem als „Wille zur Macht" (326, 3) sein dürfte.
Daher erscheinen „Selbstlosigkeit, Selbstverleugnung, Selbstop-
ferung" als „widersprüchliche[.] Begriffe[.]" (326, 24 f., zum Begriff der Selbst-
verleugnung bei Lecky 1873, 2, 288 siehe NK ÜK GM III 7). Ein „Unegoistisches"
kann es also strikt gesprochen gar nicht geben; es handelt sich vielmehr um
umgeleiteten ,Egoismus', der sich selbst zu vernichten sucht - eine Aktivität,
die auf die Auslöschung aller Aktivität gerichtet ist. Vgl. auch May 1999, 64.
19.
Widmete sich der vorangehende Abschnitt noch einem trieb- oder affektlogi-
schen Erklärungsversuch für das Auftreten des schlechten Gewissens, begibt
sich GM II 19 auf das Feld der historischen Anthropologie und Frühgeschichts-
selbst, weil von psychischer Selbstzerfleischung entstellt, als widerwärtig,
eben hässlich wahr und projiziert das Schöne nach außen. Die Frage von 326,
19-22 legt nahe, dass erst dadurch, dass in ihrem Triebhandeln nach innen
umgelenkte Individuen sich selbst verabscheuten, überhaupt so etwas wie
Schönheitsbewusstsein und die Produktion von schönen Kunstwerken in die
Welt kamen: Wer mit sich völlig eins ist und sich nicht als hässlich empfindet,
muss nichts Schönes erdenken oder erschaffen.
326, 27 zweifle] Fälschlich heißt es in KSA 5, 326, 27: „zweiflle". Das ist ein
Druckfehler; in der Erstausgabe steht: „zweifle" (Nietzsche 1887a, 82).
326, 30 f. Soviel vorläufig zur Herkunft des „Unegoistischen" als eines morali-
schen Werthes] Dass das „Unegoistische" moralisch geboten sei, hat bereits der
Sprecher in GM Vorrede 5 als nihilistische Sicht zurückgewiesen und sich damit
sowohl von Schopenhauer als auch von Ree schroff distanziert, vgl. NK 252, 4-
9. Wenn GM II 18 darauf zurückkommt, dann um den Nachweis zu führen, dass
dieses Unegoistische nicht, wie Ree mutmaßte, etwas Ursprüngliches, sondern
etwas historisch, unter dem Einfluss von Unterdrückung Gewordenes ist: „erst
das schlechte Gewissen, erst der Wille zur Selbstmisshandlung giebt die Vo-
raussetzung ab für den Werth des Unegoistischen. —" (326, 32-327, 2) In der
hier rekonstruierten Trieb- und Affektlogik bejaht das Individuum also ur-
sprünglich sein eigenes Wollen, die Durchsetzung seiner eigenen Interessen,
seinen „Instinkt der Freiheit" (326, 2). Die durch die situativen Umstän-
de der Fremdherrschaft erzeugte Unfähigkeit, diesen Instinkt gegen andere
und anderes auszuagieren, soll nun dazu geführt haben, dass sich dieses akti-
ve Vermögen als Lust an der Grausamkeit gegen einen selbst richtet. Die Lust
an der Grausamkeit zielt nach dieser Lesart auf die Vernichtung jenes Selbst,
das doch Träger von nichts anderem als „Wille zur Macht" (326, 3) sein dürfte.
Daher erscheinen „Selbstlosigkeit, Selbstverleugnung, Selbstop-
ferung" als „widersprüchliche[.] Begriffe[.]" (326, 24 f., zum Begriff der Selbst-
verleugnung bei Lecky 1873, 2, 288 siehe NK ÜK GM III 7). Ein „Unegoistisches"
kann es also strikt gesprochen gar nicht geben; es handelt sich vielmehr um
umgeleiteten ,Egoismus', der sich selbst zu vernichten sucht - eine Aktivität,
die auf die Auslöschung aller Aktivität gerichtet ist. Vgl. auch May 1999, 64.
19.
Widmete sich der vorangehende Abschnitt noch einem trieb- oder affektlogi-
schen Erklärungsversuch für das Auftreten des schlechten Gewissens, begibt
sich GM II 19 auf das Feld der historischen Anthropologie und Frühgeschichts-