424 Zur Genealogie der Moral
attestiert: „Bei der Kritik der ästhetischen Urtheilskraft wird zuvörderst sich
uns die Bemerkung aufdringen, daß er die Methode, welche seiner ganzen Phi-
losophie eigen ist und welche ich oben ausführlich betrachtet habe, beibehielt:
ich meyne das Ausgehen von der abstrakten Erkenntniß, zur Ergründung der
anschaulichen, so daß ihm jene gleichsam als camera obscura dient, um diese
darin aufzufangen und zu übersehen. Wie, in der Kritik der reinen Vernunft,
die Formen der Urtheile ihm Aufschluß geben sollten über die Erkenntniß un-
serer ganzen anschaulichen Welt; so geht er auch in dieser Kritik der ästheti-
schen Urtheilskraft nicht vom Schönen selbst, vom anschaulichen, unmittelba-
ren Schönen aus, sondern vom Urtheil über das Schöne, dem sehr häßlich
sogenannten Geschmacksurtheil. Dieses ist ihm sein Problem. Besonders erregt
seine Aufmerksamkeit der Umstand, daß ein solches Urtheil offenbar die Aus-
sage eines Vorgangs im Subjekt ist, dabei aber doch so allgemein gültig, als
beträfe es eine Eigenschaft des Objekts. Dies hat ihn frappirt, nicht das Schöne
selbst. Er geht immer nur von den Aussagen Anderer aus, vom Urtheil über
das Schöne, nicht vom Schönen selbst. Es ist daher, als ob er es ganz und gar
nur von Hörensagen, nicht unmittelbar kennte. Fast eben so könnte ein höchst
verständiger Blinder, aus genauen Aussagen, die er über die Farben hörte, eine
Theorie derselben kombiniren. Und wirklich dürfen wir Kants Philosopheme
über das Schöne beinahe nur in solchem Verhältniß betrachten." (Schopen-
hauer 1873-1874, 2, 629) Anspruch auf Unpersönlichkeit und Allgemeingültig-
keit bilden demnach bereits bei Schopenhauer Anknüpfungspunkte, von de-
nen aus sich Kants ästhetische Theorie aushebeln lassen sollte. Ebenso nimmt
Schopenhauer den in GM II 6 erhobenen Vorwurf an Kants Adresse vorweg,
dass diesem eigene „Erfahrung", eine „Fülle eigenster starker Erlebnisse" (347,
3) vollkommen fehlten, um in aestheticis mitreden zu können. Vgl. zu N.s Kritik
am „Unpersönlichen" auch Rauh 2016, 382 f. u. Stegmaier 2014, 79.
346, 27-32 dass Kant, gleich allen Philosophen, statt von den Erfahrungen des
Künstlers (des Schaffenden) aus das ästhetische Problem zu visiren, allein vom
„Zuschauer" aus über die Kunst und das Schöne nachgedacht und dabei unver-
merkt den „Zuschauer" selber in den Begriff „schön" hinein bekommen hat.] Al-
lerdings ist es nicht so, dass der „Zuschauer" in der Kritik der Urteilskraft eine
besonders herausgehobene Position einnähme und der Rezipient von Natur-
oder Kunstschönem generell als „Zuschauer" bezeichnet würde, auch wenn
das gelegentlich vorkommt (AA V, 243 u. 251). Das Denken in Kategorien der
Zuschauerschaft ist freilich in Kernsätzen von Kants ästhetischem Hauptwerk
durchaus präsent, so in einem Fall, den auch Kuno Fischer in seiner von N.
benutzten Kant-Darstellung prominent zitiert: „Das Angenehme und Gute ha-
ben beide eine Beziehung auf das Begehrungsvermögen [...]. Dagegen ist das
Geschmacksurtheil bloß contemplativ" (AA V 209, vgl. Fischer 1882, 4, 427,
attestiert: „Bei der Kritik der ästhetischen Urtheilskraft wird zuvörderst sich
uns die Bemerkung aufdringen, daß er die Methode, welche seiner ganzen Phi-
losophie eigen ist und welche ich oben ausführlich betrachtet habe, beibehielt:
ich meyne das Ausgehen von der abstrakten Erkenntniß, zur Ergründung der
anschaulichen, so daß ihm jene gleichsam als camera obscura dient, um diese
darin aufzufangen und zu übersehen. Wie, in der Kritik der reinen Vernunft,
die Formen der Urtheile ihm Aufschluß geben sollten über die Erkenntniß un-
serer ganzen anschaulichen Welt; so geht er auch in dieser Kritik der ästheti-
schen Urtheilskraft nicht vom Schönen selbst, vom anschaulichen, unmittelba-
ren Schönen aus, sondern vom Urtheil über das Schöne, dem sehr häßlich
sogenannten Geschmacksurtheil. Dieses ist ihm sein Problem. Besonders erregt
seine Aufmerksamkeit der Umstand, daß ein solches Urtheil offenbar die Aus-
sage eines Vorgangs im Subjekt ist, dabei aber doch so allgemein gültig, als
beträfe es eine Eigenschaft des Objekts. Dies hat ihn frappirt, nicht das Schöne
selbst. Er geht immer nur von den Aussagen Anderer aus, vom Urtheil über
das Schöne, nicht vom Schönen selbst. Es ist daher, als ob er es ganz und gar
nur von Hörensagen, nicht unmittelbar kennte. Fast eben so könnte ein höchst
verständiger Blinder, aus genauen Aussagen, die er über die Farben hörte, eine
Theorie derselben kombiniren. Und wirklich dürfen wir Kants Philosopheme
über das Schöne beinahe nur in solchem Verhältniß betrachten." (Schopen-
hauer 1873-1874, 2, 629) Anspruch auf Unpersönlichkeit und Allgemeingültig-
keit bilden demnach bereits bei Schopenhauer Anknüpfungspunkte, von de-
nen aus sich Kants ästhetische Theorie aushebeln lassen sollte. Ebenso nimmt
Schopenhauer den in GM II 6 erhobenen Vorwurf an Kants Adresse vorweg,
dass diesem eigene „Erfahrung", eine „Fülle eigenster starker Erlebnisse" (347,
3) vollkommen fehlten, um in aestheticis mitreden zu können. Vgl. zu N.s Kritik
am „Unpersönlichen" auch Rauh 2016, 382 f. u. Stegmaier 2014, 79.
346, 27-32 dass Kant, gleich allen Philosophen, statt von den Erfahrungen des
Künstlers (des Schaffenden) aus das ästhetische Problem zu visiren, allein vom
„Zuschauer" aus über die Kunst und das Schöne nachgedacht und dabei unver-
merkt den „Zuschauer" selber in den Begriff „schön" hinein bekommen hat.] Al-
lerdings ist es nicht so, dass der „Zuschauer" in der Kritik der Urteilskraft eine
besonders herausgehobene Position einnähme und der Rezipient von Natur-
oder Kunstschönem generell als „Zuschauer" bezeichnet würde, auch wenn
das gelegentlich vorkommt (AA V, 243 u. 251). Das Denken in Kategorien der
Zuschauerschaft ist freilich in Kernsätzen von Kants ästhetischem Hauptwerk
durchaus präsent, so in einem Fall, den auch Kuno Fischer in seiner von N.
benutzten Kant-Darstellung prominent zitiert: „Das Angenehme und Gute ha-
ben beide eine Beziehung auf das Begehrungsvermögen [...]. Dagegen ist das
Geschmacksurtheil bloß contemplativ" (AA V 209, vgl. Fischer 1882, 4, 427,