474 Zur Genealogie der Moral
„Selbstwiderspruch" sei „physiologisch" statt „psychologisch" betrachtet
nichts weiter als „Unsinn" (365, 23-26, zur Entgegensetzung von „physiolo-
gisch" und „psychologisch" Dellinger 2017, 66-69). Denn hier stehe keines-
wegs „,Leben gegen Leben"' (365, 24 f.) - der angebliche Selbstwiderspruch
erweist sich als Selbstmissverständnis. Vielmehr sei der physiologisch feststell-
bare, gegen die psychologische Fehlinterpretation geltend zu machende „That-
bestand" ein anderer: „das asketische Ideal entspringt dem
Schutz- und Heil-Instinkte eines degenerirenden Lebens" (366,
1-3). Dabei ist es jetzt - trotz der in N.s Texten wiederholten Polemik gegen
den Darwinismus (vgl. z. B. Venturelli 1999; Sommer 2010b u. Johnson 2010;
im Blick auf GM Woodford 2018, 44 u. ö.) - gerade ein evolutionsbiologisches
Argument, das diese physiologische Betrachtungsweise beglaubigen soll: Das
niedergehende Leben kämpfe mit allen Mitteln um seine Selbsterhaltung, sein
Dasein (inwiefern dieser Ansatz mit heutiger Evolutionsbiologie kompatibel ist,
erörtert Forber 2013). Und ein wesentliches Mittel sei eben just das asketische
Ideal, bei dem es sich also gerade nicht so verhalte, wie die Anhänger dieses
Ideals glaubten, denn es ziele nicht darauf ab, dieser Welt zu entfliehen und
möglichst bald den physischen Tod (und womöglich ein besseres Jenseitsle-
ben) herbeizuführen. Vielmehr diene es als „ein Kunstgriff in der Erhaltung
des Lebens" (366, 11 f.). Dass dieses Ideal geschichtlich so dominant habe wer-
den können, bringe eine „große Thatsache" zum Ausdruck, nämlich die
„Krankhaftigkeit" (366, 16) des im Prozess der Zivilisierung gefügig und
zahm gemachten Menschen. GM III 13 zufolge findet sie Ausdruck im Wunsch
nach dem Ende, dem Willen zum Tode.
„Der asketische Priester" (366, 20 f.) nun verkörpere zwar einerseits diesen
Wunsch nach dem Ende und dem Anderssein, andererseits sei aber gerade die
Größe, die „Macht seines Wünschens" (366, 24) das Band, das ihn ans hiesige
Leben fessle - und mit dieser Macht könne er auch alle Zu-Kurz-Gekommenen
und am eigenen Leben Leidenden als „Heerde" (366, 27) an sich „als Hirt"
(366, 30) binden. Dieser vermeintlich ganz auf Verneinung gepolte asketische
Priester zähle in Wahrheit „zu den ganz grossen conservirenden und Ja-
schaffenden Gewalten des Lebens" (366, 32-34). Er sorgt augenscheinlich
dafür, dass krankes Leben gerade nicht den Weg zur Selbstvernichtung geht,
sondern am Leben bleibt. Diese Passage in GM III 13 liest sich wie eine verspä-
tete Antwort auf eine Frage, die Paul Michaelis in seiner JGB-Rezension für die
National-Zeitung vom 04. 12. 1886 (KGB III 7/3, 2, S. 865-871, hier S. 871) ge-
stellt hat: „Wenn nun einmal auch die ,Herde' sein Lebensprinzip, den Willen
zur Macht, sich aneignen wollte?"
Woran die bereits zur Sprache gekommene „Krankhaftigkeit" (366, 34-367,
1) des Menschen hänge, der als nicht-festgestelltes Tier „das kranke Thier"
„Selbstwiderspruch" sei „physiologisch" statt „psychologisch" betrachtet
nichts weiter als „Unsinn" (365, 23-26, zur Entgegensetzung von „physiolo-
gisch" und „psychologisch" Dellinger 2017, 66-69). Denn hier stehe keines-
wegs „,Leben gegen Leben"' (365, 24 f.) - der angebliche Selbstwiderspruch
erweist sich als Selbstmissverständnis. Vielmehr sei der physiologisch feststell-
bare, gegen die psychologische Fehlinterpretation geltend zu machende „That-
bestand" ein anderer: „das asketische Ideal entspringt dem
Schutz- und Heil-Instinkte eines degenerirenden Lebens" (366,
1-3). Dabei ist es jetzt - trotz der in N.s Texten wiederholten Polemik gegen
den Darwinismus (vgl. z. B. Venturelli 1999; Sommer 2010b u. Johnson 2010;
im Blick auf GM Woodford 2018, 44 u. ö.) - gerade ein evolutionsbiologisches
Argument, das diese physiologische Betrachtungsweise beglaubigen soll: Das
niedergehende Leben kämpfe mit allen Mitteln um seine Selbsterhaltung, sein
Dasein (inwiefern dieser Ansatz mit heutiger Evolutionsbiologie kompatibel ist,
erörtert Forber 2013). Und ein wesentliches Mittel sei eben just das asketische
Ideal, bei dem es sich also gerade nicht so verhalte, wie die Anhänger dieses
Ideals glaubten, denn es ziele nicht darauf ab, dieser Welt zu entfliehen und
möglichst bald den physischen Tod (und womöglich ein besseres Jenseitsle-
ben) herbeizuführen. Vielmehr diene es als „ein Kunstgriff in der Erhaltung
des Lebens" (366, 11 f.). Dass dieses Ideal geschichtlich so dominant habe wer-
den können, bringe eine „große Thatsache" zum Ausdruck, nämlich die
„Krankhaftigkeit" (366, 16) des im Prozess der Zivilisierung gefügig und
zahm gemachten Menschen. GM III 13 zufolge findet sie Ausdruck im Wunsch
nach dem Ende, dem Willen zum Tode.
„Der asketische Priester" (366, 20 f.) nun verkörpere zwar einerseits diesen
Wunsch nach dem Ende und dem Anderssein, andererseits sei aber gerade die
Größe, die „Macht seines Wünschens" (366, 24) das Band, das ihn ans hiesige
Leben fessle - und mit dieser Macht könne er auch alle Zu-Kurz-Gekommenen
und am eigenen Leben Leidenden als „Heerde" (366, 27) an sich „als Hirt"
(366, 30) binden. Dieser vermeintlich ganz auf Verneinung gepolte asketische
Priester zähle in Wahrheit „zu den ganz grossen conservirenden und Ja-
schaffenden Gewalten des Lebens" (366, 32-34). Er sorgt augenscheinlich
dafür, dass krankes Leben gerade nicht den Weg zur Selbstvernichtung geht,
sondern am Leben bleibt. Diese Passage in GM III 13 liest sich wie eine verspä-
tete Antwort auf eine Frage, die Paul Michaelis in seiner JGB-Rezension für die
National-Zeitung vom 04. 12. 1886 (KGB III 7/3, 2, S. 865-871, hier S. 871) ge-
stellt hat: „Wenn nun einmal auch die ,Herde' sein Lebensprinzip, den Willen
zur Macht, sich aneignen wollte?"
Woran die bereits zur Sprache gekommene „Krankhaftigkeit" (366, 34-367,
1) des Menschen hänge, der als nicht-festgestelltes Tier „das kranke Thier"