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Stellenkommentar GM III 20, KSA 5, S. 387-388 541

Freuden- und Leidenschaften, KSA 4, 43, 9-12: „Am Ende wurden alle deine
Leidenschaften zu Tugenden und alle deine Teufel zu Engeln. / Einst hattest
du wilde Hunde in deinem Keller: aber am Ende verwandelten sie sich zu Vö-
geln und lieblichen Sängerinnen." Hier ist es Zarathustra selbst, der zu einem
nicht weiter spezifizierten „Bruder" (KSA 4, 42, 2 u. 43, 18) spricht und offen-
sichtlich eine Veredlung der Leidenschaften visioniert. Seggern/Martins 2016,
71 sehen in der in Za I beschriebenen Verwandlung von Leidenschaften in Tu-
genden die Adaption eines Modells aus Spinozas Ethica und verweisen zudem
auf das Katharsis-Modell in Lessings Hamburgischer Dramaturgie (vgl. auch
NK 304, 2). In GM III 20 sind es hingegen die Priester, die sich die als wilde
Hunde verbildlichten „grossen Affekte" (388, 12) zunutze machen - nicht, in-
dem sie sie in „Tugenden" verwandeln, sondern „bald diesen, bald jenen
los[..]lassen, immer zu dem gleichen Zwecke, den Menschen aus der langsa-
men Traurigkeit aufzuwecken" (388, 17-19). Der Thymos, der leidenschaftlich-
mutartige Seelenteil, wird schon in der antiken Philosophie gerne mit einem
Hund verglichen, so in Platon: Politeia 375a-e und Aristoteles: Nikomachische
Ethik 1149a25-32: er verhalte sich „wie der Hund, der, sobald ein Geräusch
entsteht, anschlägt, ehe er untersucht, ob es ein Freund ist: gerade so stürmt
der Zorn wegen der Hitze und Raschheit seiner Natur auf die Rache los, indem
er etwas hört, aber die Vorschrift der Vernunft nicht anhört" (Aristoteles 1856,
209). Metaphorologisch ist bemerkenswert, dass N. mit den Hunden eine Spezi-
es aufruft, die man sich normalerweise als domestiziert vorstellt - und nicht
canide Wildtiere wie Wölfe oder Kojoten -, sie mit dem Epitheton „wild" aber
renaturalisiert. Freilich ist die Rede von „wilden Hunden" im 19. Jahrhundert
durchaus gebräuchlich. Gemeint sind herrenlose Hunde, die also aus der Do-
mestizierung wieder ausgebüchst sind (und deren ,Wildheit' wohl deshalb so
bemerkenswert erscheint). Insofern ist gerade der Hund geeignet, um Ambiva-
lenzen des Verhältnisses von Natur und Kultur in den Blick zu nehmen und
eine starre Grenzziehung zu unterlaufen. In Za I Von der Keuschheit ist die
Rede von der „Hündin Sinnlichkeit" (KSA 4, 69, 16), die den Mann wie ein
Dämon besetzt halte und von innen heraus das äußere Verhalten lenke.
388, 21-23 Jede derartige Ausschweifung des Gefühls macht sich hinterdrein
bezahlt, das versteht sich von selbst — sie macht den Kranken kränker] Es
findet also gerade keine Spontanheilung, keine dauerhafte Genesung wie
durch „Blitzschlag" (388, 10) statt, sondern die Krankheit kehrt noch stärker
zurück. In 388, 34-389, 2 wird ausgeführt, dass die Priester nicht die Heilung
wollten, sondern nur den Depressionsaufschub. Die Fluchtrichtung des Gedan-
kens, der Hauptvorwurf ist eben, dass nicht bloß eine Prolongation des Leidens
stattfinde, sondern der Kranke noch kränker werde.
 
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