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Stellenkommentar GM III 20, KSA 5, S. 389 543

tische Banden geschlagen scheint: „Der Strich bannt die Henne; der Streich,
den er führte, bannte seine arme Vernunft — den Wahnsinn nach der That
heisse ich diess." (KSA 4, 46, 8-10, vgl. Brusotti 1997, 557-559.) In W II 5, 28,
46-48 (KGW IX 8) wird schließlich mit der fixen Idee die Brücke zum zeitge-
nössischen psychiatrischen Diskurs geschlagen und die Sünderanalogie von
GM III 20 aufrechterhalten: „die ,Idee fixe['] der Sünde, die Hypnotisirung der /
Henne durch den Strich ,Sünde'" (vgl. NL 1888, KSA 13, 14[179], 364, 19-21).
Das fragliche Experiment mit der Henne und dem Kreidestrich wird mit dem
Barock-Gelehrten Athanasius Kircher in Verbindung gebracht - es handelt sich
um sein sogenanntes „Experimentum mirabile" (Preyer 1878, 3) - und wird
öfter diskutiert, so beispielsweise in James Braids Buch Der Hypnotismus (Braid
1882, 99 f. u. 262, kritisch dazu der Braid-Herausgeber Preyer, ebd., 283, der
Braids Parallelisierung der „Kataplexie des Huhns und der Autohypnose der
Inder" zurückweist). Brusotti 2001, 123 f. konstatiert allerdings, dass N. Kir-
chers Experiment vermutlich schon kannte, bevor er Braid gelesen hat. Über-
dies fällt auf, dass N. bei allen Erwähnungen des Experimentes von „Henne"
und nicht wie Braid von „Huhn" spricht, obwohl er in anderen Zusammenhän-
gen das Huhn nicht scheut. Preyer wiederum veröffentlichte 1878 eine Abhand-
lung unter dem Titel Die Kataplexie und der thierische Hypnotismus, in deren
Anhang er nachweist, dass das Experiment bereits ein Jahrzehnt vor Kircher
im Jahr 1636 von Daniel Schwenter beschrieben worden ist, und zwar wie folgt:
„Wilt du eine wunderliche Kurtzweil anfangen, so nimb eine Henne, sie sey
beschaffen wie sie wolle, setze sie auff einen Tisch, halt jhr den Schnabel auff
den Tisch, fahr jhr mit einer Kreyden über den Schnabel, hernach der Läng
hinausz, dass die Kreyde von dem Schnabel an einen starcken langen Strich
auff den Tisch mache, lasz die Henne also ledig, so wird sie gantz erschro-
cken stille sitzen den strich mit unveränderten Augen ansehen, vnd wann nur
die Vmbsthehenden sich still halten, nicht leichtlich von dannen fliegen. Eben
disz geschiehet auch, wann man sie auff einem Tisch hält, vnd jhr über die
Augen einen Span leget." (Preyer 1878, 97) Es scheint - da die zeitgenössischen
Gelehrten meist von „Huhn" zu sprechen scheinen (z. B. auch Czermäk 1879,
1/2, 839 f.) -, als ob N. Schwenters Originalwortlaut vor Augen gehabt haben
könnte - am ehesten vielleicht in Preyers Vortragsband Naturwissenschaftliche
Thatsachen und Probleme, in dem Schwenter noch einmal vollständig zitiert
(Preyer 1880, 179) und das Problem mit neuesten Forschungsergebnissen unter
der Kapitelüberschrift „Hypnotismus und Kataplexie" (ebd., 178-197) ausgiebig
diskutiert wird. „Hypnotismus" ist dann genau auch das Stichwort, unter dem
das Experiment bei N. 1882 erstmals auftaucht.
389, 31-390, 2 Und nun wird man den Aspekt dieses neuen Kranken, „des Sün-
ders", für ein paar Jahrtausende nicht los, — wird man ihn je wieder los? — wohin
 
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