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548 Zur Genealogie der Moral

finden im Gefolge des Buss- und Erlösungs-training ungeheure epileptische Epi-
demien, die grössten, von denen die Geschichte weiss, wie die der St. Veit- und
St. Johann-Tänzer des Mittelalters] In GT 1, KSA 1, 29, 6-8 standen die „Sanct-
Johann- und Sanct-Veittänzer" für die im Mittelalter persistierende „dionysi-
sche[.] Gewalt", was NL 1869, KSA 7, 1[34], 19 scheinbar mit Justus Friedrich
Carl Heckers Buch Die Tanzwuth, eine Volkskrankheit im Mittelalter unterfüttert
(vgl. Hecker 1832, 1-26 u. die Quellenauszüge ebd., 83-88; die Seitenangaben
in NK KSA 1, 29, 7 f. sind falsch). Die Informationen samt dem Hecker-Buchtitel
hat N. aber allesamt aus dem dritten Band von Ludwig Uhlands Schriften zur
Geschichte der Dichtung und Sage übernommen (bes. Uhland 1866, 3, 399 f. u.
484, vgl. die Nachweise in KGW III 5/2, 1493) und Hecker vielleicht nie in Hän-
den gehalten. (Auch weitere Notate zum St. Veitstanz stehen im Banne Uh-
lands: NL 1869, KSA 7, 1[1], 10 und dazu GMD, KSA 1, 521, 11-33; NL 1869, KSA 7,
1[33], 19; NL 1870/71, KSA 7, 7[50], 150; NL 1876/77, KSA 8, 23[11], 406.) Eine
Schwerpunktverschiebung weg von der Hochschätzung des Dionysischen hin
zum Psychopathologischen erlebt der Veitstanz in MA I 214, wo er wie in
GM III 21 mit „Epilepsie" und „Nerven-Epidemien" in Verbindung gebracht
wird (KSA 2, 174, 27 f., vgl. auch NL 1881, KSA 9, 11[114], 482). Dass Nervenzer-
rüttung und Epilepsie mit dem Veitstanz zusammengedacht werden, verweist
auf eine Lektüre, aus der N. beispielsweise Informationen über den Totentanz
in GM III 13 hat beziehen können. Unmittelbar folgend auf die in NK 367, 14-
16 zitierte Stelle heißt es in Paul de Saint-Victors Hommes et dieux: „Tant de
catastrophes avaient ebranle les nerfs de l'humanite. La danse de Saint-Guy
fut le galop final de cette orgie de douleurs. Elle commence en 1374 sur les
bords du Rhin, et de lä se repand avec une rapidite electrique en Hollande, en
Flandre, en France, en Suisse, en Allemagne. Ceux que piquait cette tarentule
infernale entraient subitement en danse: danse enragee, delirante, agitee par
les tremblements, couverte de l'ecume de l'epilepsie. On voyait les danseurs
se prendre par la main dans les rues, former de grandes rondes et tourner
jusqu'ä ce qu'ils tombassent raidis de fatigue. Ce fut sans doute l'origine de la
Danse Macabre." (Saint-Victor 1867, 320. „So viele Katastrophen hatten die Ner-
ven der Menschheit erschüttert. Der Veitstanz war der letzte Ritt dieser Orgie
der Schmerzen. Er begann 1374 am Rheinufer und breitete sich von dort mit
atemberaubender Geschwindigkeit nach Holland, Flandern, Frankreich, in die
Schweiz und nach Deutschland aus. Diejenigen, die diese höllische Tarantel
stach, reihten sich plötzlich in den Tanz ein: Ein wütender, wahnsinniger Tanz,
von Zittern durchwogt, bedeckt vom Schaum der Epilepsie. Man sah, wie die
Tänzer sich auf den Straßen gegenseitig die Hände hielten, große Kreise bilde-
ten und sich drehten, bis sie starr vor Erschöpfung zu Boden fielen. Dies war
zweifellos der Ursprung des Totentanzes.")
 
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