Stellenkommentar GM III 21, KSA 5, S. 391-392 549
391, 30-34 wir finden als andre Form seines Nachspiels furchtbare Lähmungen
und Dauer-Depressionen, mit denen unter Umständen das Temperament eines
Volkes oder einer Stadt (Genf, Basel) ein für alle Mal in sein Gegentheil um-
schlägt] Basel ist nach Saint-Victor 1867, 327 der Ort einer berühmtem Toten-
tanzdarstellung; von der anhaltenden Basler „Dauer-Depression" konnte sich
N. ein Jahrzehnt lang als dortiger Professor überzeugen. Genf wiederum steht
für die düstere Reformation Johannes Calvins (vgl. z. B. Saint-Victor 1867, 430
u. 438), deren gemütstrübender Effekt dem Christentums- und Reformations-
kritiker N. (vgl. Heit / Sommer 2019) deutlich vor Augen stand.
391, 34-392, 3 hierher gehört auch die Hexen-Hysterie, etwas dem Somnambu-
lismus Verwandtes (acht grosse epidemische Ausbrüche derselben allein zwi-
schen 1564 und 1605)] Vgl. NK KSA 6, 94, 5-7. Orsucci 2002, 316 f. macht Charles
Richets L'homme et l'intelligence als Quelle für 391, 34-392, 3 namhaft: „A la
fin du XVIe siecle, les epidemies de demonomanie, et par consequent les execu-
tions, redoublent. Il y en a en Alsace (1541), ä Cologne (1564), en Savoie (1574),
ä Toulouse (1577), en Lorraine (1580), dans le Jura (1590), dans le Brandebourg
(1590), en Bearn (1605). Ces epidemies de sorcellerie n'etaient que des epide-
mies de folie." (Richet 1884, 349, auch schon in Richet 1880, 832. „Am Ende
des 16. Jahrhunderts verdoppelten sich die Epidemien des Dämonenwahns und
als Konsequenz die Hinrichtungen. Es gab welche im Elsass (1541), in Köln
(1564), in Savoyen (1574), in Toulouse (1577), in Lothringen (1580), im Jura
(1590), in Brandenburg (1590), im Bearn (1605). Diese Hexenepidemien waren
nur Epidemien des Wahnsinns.") Bei Richet ist viel auch von Somnambulismus
die Rede (vgl. z. B. Richet 1884, 293 u. Richet 1880, 851). Es fällt freilich zum
einen auf, dass Richet zwar acht große Verfolgungswellen aufzählt, deren erste
jedoch schon ins Jahr 1541 und nicht erst wie in GM III 21 ins Jahr 1564 fällt
(daher sind es bei Richet ab 1564 nur sieben Ausbrüche). Zum anderen sticht
ins Auge, dass eine andere Hexenstelle in GM III 16 aus chronologischen Grün-
den nicht Richet 1884 zur Quelle haben kann (vielleicht aber Richet 1880), vgl.
NK 376, 19-24.
392, 4 f. deren entsetzlicher Schrei „ewiva la morte" über ganz Europa weg ge-
hört wurde] Milner 2013 zeigt, dass dieser „Schrei" - zumal noch auf Italie-
nisch - im Spätmittelalter oder in der Frühneuzeit so wohl nie erklungen ist.
Dagegen stellt er fest, dass das Motiv im Kontext der Französischen Revolution
im säkular-politischen Kontext populär geworden ist, Malwida von Meysenbug
es von Alexander Iwanowitsch Herzen hernimmt („,Und deswegen lebe das
Chaos und die Extermination! Vive la mort! Platz der Zukunft!"' [Meysenbug]
1876, 2, 99), und N. es sarkastisch gebrochen in Baudelaires (Euvres posthumes
wiederfinden konnte (Baudelaire 1887, LIII: „Je dis: Vive la Revolution! comme
391, 30-34 wir finden als andre Form seines Nachspiels furchtbare Lähmungen
und Dauer-Depressionen, mit denen unter Umständen das Temperament eines
Volkes oder einer Stadt (Genf, Basel) ein für alle Mal in sein Gegentheil um-
schlägt] Basel ist nach Saint-Victor 1867, 327 der Ort einer berühmtem Toten-
tanzdarstellung; von der anhaltenden Basler „Dauer-Depression" konnte sich
N. ein Jahrzehnt lang als dortiger Professor überzeugen. Genf wiederum steht
für die düstere Reformation Johannes Calvins (vgl. z. B. Saint-Victor 1867, 430
u. 438), deren gemütstrübender Effekt dem Christentums- und Reformations-
kritiker N. (vgl. Heit / Sommer 2019) deutlich vor Augen stand.
391, 34-392, 3 hierher gehört auch die Hexen-Hysterie, etwas dem Somnambu-
lismus Verwandtes (acht grosse epidemische Ausbrüche derselben allein zwi-
schen 1564 und 1605)] Vgl. NK KSA 6, 94, 5-7. Orsucci 2002, 316 f. macht Charles
Richets L'homme et l'intelligence als Quelle für 391, 34-392, 3 namhaft: „A la
fin du XVIe siecle, les epidemies de demonomanie, et par consequent les execu-
tions, redoublent. Il y en a en Alsace (1541), ä Cologne (1564), en Savoie (1574),
ä Toulouse (1577), en Lorraine (1580), dans le Jura (1590), dans le Brandebourg
(1590), en Bearn (1605). Ces epidemies de sorcellerie n'etaient que des epide-
mies de folie." (Richet 1884, 349, auch schon in Richet 1880, 832. „Am Ende
des 16. Jahrhunderts verdoppelten sich die Epidemien des Dämonenwahns und
als Konsequenz die Hinrichtungen. Es gab welche im Elsass (1541), in Köln
(1564), in Savoyen (1574), in Toulouse (1577), in Lothringen (1580), im Jura
(1590), in Brandenburg (1590), im Bearn (1605). Diese Hexenepidemien waren
nur Epidemien des Wahnsinns.") Bei Richet ist viel auch von Somnambulismus
die Rede (vgl. z. B. Richet 1884, 293 u. Richet 1880, 851). Es fällt freilich zum
einen auf, dass Richet zwar acht große Verfolgungswellen aufzählt, deren erste
jedoch schon ins Jahr 1541 und nicht erst wie in GM III 21 ins Jahr 1564 fällt
(daher sind es bei Richet ab 1564 nur sieben Ausbrüche). Zum anderen sticht
ins Auge, dass eine andere Hexenstelle in GM III 16 aus chronologischen Grün-
den nicht Richet 1884 zur Quelle haben kann (vielleicht aber Richet 1880), vgl.
NK 376, 19-24.
392, 4 f. deren entsetzlicher Schrei „ewiva la morte" über ganz Europa weg ge-
hört wurde] Milner 2013 zeigt, dass dieser „Schrei" - zumal noch auf Italie-
nisch - im Spätmittelalter oder in der Frühneuzeit so wohl nie erklungen ist.
Dagegen stellt er fest, dass das Motiv im Kontext der Französischen Revolution
im säkular-politischen Kontext populär geworden ist, Malwida von Meysenbug
es von Alexander Iwanowitsch Herzen hernimmt („,Und deswegen lebe das
Chaos und die Extermination! Vive la mort! Platz der Zukunft!"' [Meysenbug]
1876, 2, 99), und N. es sarkastisch gebrochen in Baudelaires (Euvres posthumes
wiederfinden konnte (Baudelaire 1887, LIII: „Je dis: Vive la Revolution! comme