Stellenkommentar GM III 24, KSA 5, S. 399-400 571
ließe sich im Anschluss an Benne fragen, ob in N.s Spätwerk die Philologie
nur ironisch in Anspruch genommen und zwar so getan werde, als fänden phi-
lologische Methoden Anwendung, während aber in Wahrheit Werke wie GM
und AC Antiphilologie betreiben, indem sie gerade nicht die unparteiischste,
sondern eine dezidiert parteiische Rekonstruktion des Gewesenen anstreben.
400, 9-15 Was aber zu ihm zwingt, jener unbedingte Wille zur Wahrheit, das
ist der Glaube an das asketische Ideal selbst, wenn auch als sein unbe-
wusster Imperativ, man täusche sich hierüber nicht, — das ist der Glaube an
einen metaphysischen Werth, einen Werth an sich der Wahrheit, wie er
allein in jenem Ideal verbürgt und verbrieft ist (er steht und fällt mit jenem Ide-
al).] Die nachmals berühmte Fügung „Wille zur Wahrheit" dürfte N. dem Des-
cartes-Band von Kuno Fischers Geschichte der neuern Philosophie (Fischer
1865, 1, 361) entnommen haben, vgl. NK KSA 5, 15, 4. Zunächt ist unklar, wor-
auf sich das männliche oder sächliche Personalpronomen im Dativ „ihm" (400,
9) bezieht. Grammatikalisch müsste es den „modus dieser Verneinung" in der
vorangehenden Klammer (400, 8 f.) oder den „Ascetismus der Tugend" (400, 7)
meinen. Dann aber geriete die Aussage in den Verdacht der Tautologie - der
„Glaube an das asketische Ideal" zwänge zum „Ascetismus". Ist also
der Bezug des „ihm" eher die Apposition „jener unbedingte Wille zur Wahr-
heit", die gleich folgt (400, 9 f.), aber eben nicht im grammatisch eigentlich
erwartbaren Dativ steht? Dann würde der Satz bedeuten, dass der unbewusste,
aber imperativische „Glaube an das asketische Ideal" noch und we-
sentlich den wissenschaftlichen Wahrheitswillen bestimme. Dieser Glaube sei,
heißt es in einer weiteren, zumindest grammatikalisch klaren Apposition, ein
„Glaube an einen metaphysischen Werth [...] der Wahrheit" (400, 12-14).
So entschieden diese Gleichsetzungen daherkommen, so sehr provozieren sie
doch Fragen: Warum beispielsweise soll der Glaube an den Wert der Wahrheit
Ausdruck des asketischen Ideals sein - zumal, wenn man statt eines metaphy-
sischen nur einen pragmatischen Wert von Wahrheit betont? Der „Wille zur
Wahrheit" muss doch keinen Willen zur metaphysischen Wahrheit implizieren.
Zunächst handelt es sich bei diesem Willen ja nur um eine Wertschätzung und
Wertsetzung. Warum soll diese „asketisch" motiviert sein, es sei denn, man
verstünde „asketisch" ganz global als Konzentration auf das Eine und Aus-
klammerung all des Anderen? Askese als Fokussierungskraft scheint für
menschliches Leben, ja animalisches Leben insgesamt allerdings unerlässlich
zu sein. Der „Wille zur Wahrheit" könnte ja beispielsweise auch darauf grün-
den, dass man die Erkenntnis von faktischen Wahrheiten für lebensdienlich
hält - etwa dank technischer Nutzungen: Physikalische Wahrheiten erkennen
zu können, ist z. B. beim Brücken- und Tunnelbau unerlässlich, lebensdienlich.
Vgl. auch Risse 2009, 229 f. u. Knoll 2012.
ließe sich im Anschluss an Benne fragen, ob in N.s Spätwerk die Philologie
nur ironisch in Anspruch genommen und zwar so getan werde, als fänden phi-
lologische Methoden Anwendung, während aber in Wahrheit Werke wie GM
und AC Antiphilologie betreiben, indem sie gerade nicht die unparteiischste,
sondern eine dezidiert parteiische Rekonstruktion des Gewesenen anstreben.
400, 9-15 Was aber zu ihm zwingt, jener unbedingte Wille zur Wahrheit, das
ist der Glaube an das asketische Ideal selbst, wenn auch als sein unbe-
wusster Imperativ, man täusche sich hierüber nicht, — das ist der Glaube an
einen metaphysischen Werth, einen Werth an sich der Wahrheit, wie er
allein in jenem Ideal verbürgt und verbrieft ist (er steht und fällt mit jenem Ide-
al).] Die nachmals berühmte Fügung „Wille zur Wahrheit" dürfte N. dem Des-
cartes-Band von Kuno Fischers Geschichte der neuern Philosophie (Fischer
1865, 1, 361) entnommen haben, vgl. NK KSA 5, 15, 4. Zunächt ist unklar, wor-
auf sich das männliche oder sächliche Personalpronomen im Dativ „ihm" (400,
9) bezieht. Grammatikalisch müsste es den „modus dieser Verneinung" in der
vorangehenden Klammer (400, 8 f.) oder den „Ascetismus der Tugend" (400, 7)
meinen. Dann aber geriete die Aussage in den Verdacht der Tautologie - der
„Glaube an das asketische Ideal" zwänge zum „Ascetismus". Ist also
der Bezug des „ihm" eher die Apposition „jener unbedingte Wille zur Wahr-
heit", die gleich folgt (400, 9 f.), aber eben nicht im grammatisch eigentlich
erwartbaren Dativ steht? Dann würde der Satz bedeuten, dass der unbewusste,
aber imperativische „Glaube an das asketische Ideal" noch und we-
sentlich den wissenschaftlichen Wahrheitswillen bestimme. Dieser Glaube sei,
heißt es in einer weiteren, zumindest grammatikalisch klaren Apposition, ein
„Glaube an einen metaphysischen Werth [...] der Wahrheit" (400, 12-14).
So entschieden diese Gleichsetzungen daherkommen, so sehr provozieren sie
doch Fragen: Warum beispielsweise soll der Glaube an den Wert der Wahrheit
Ausdruck des asketischen Ideals sein - zumal, wenn man statt eines metaphy-
sischen nur einen pragmatischen Wert von Wahrheit betont? Der „Wille zur
Wahrheit" muss doch keinen Willen zur metaphysischen Wahrheit implizieren.
Zunächst handelt es sich bei diesem Willen ja nur um eine Wertschätzung und
Wertsetzung. Warum soll diese „asketisch" motiviert sein, es sei denn, man
verstünde „asketisch" ganz global als Konzentration auf das Eine und Aus-
klammerung all des Anderen? Askese als Fokussierungskraft scheint für
menschliches Leben, ja animalisches Leben insgesamt allerdings unerlässlich
zu sein. Der „Wille zur Wahrheit" könnte ja beispielsweise auch darauf grün-
den, dass man die Erkenntnis von faktischen Wahrheiten für lebensdienlich
hält - etwa dank technischer Nutzungen: Physikalische Wahrheiten erkennen
zu können, ist z. B. beim Brücken- und Tunnelbau unerlässlich, lebensdienlich.
Vgl. auch Risse 2009, 229 f. u. Knoll 2012.