584 Zur Genealogie der Moral
deren Stelle, an der N. ihn gebraucht, weitergefasst wird und neben dem Ve-
danta auch den amerikanischen Transzendalismus Emersons und Thoreaus
mit einbegreift: „Die Transcendentalisten, welche finden, daß alle
menschliche Erkenntniß nicht den Wünschen ihres Herzens genugthut, viel-
mehr ihnen widerspricht und Schauder macht, — sie setzen unschuldig eine
Welt irgendwo an, welche dennoch ihren Wünschen entspricht, und die eben
nicht unserer Erkenntniß <sich> zugänglich zeigt: diese Welt, meinen sie, sei
die wahre Welt, im Verhältniß zu welcher unsere erkennbare Welt nur Täu-
schung ist. So Kant, so schon die Vedanta-Philosophie, so manche Amerika-
ner. — ,Wahr', das heißt für sie: was dem Wunsche unseres Herzens entspricht.
Ehemals hieß wahr: was der Vernunft entspricht" (NL 1886/87, KSA 12, 7[3],
254, 9-19).
405, 11-17 er hat ihnen jenen Schleichweg verrathen, auf dem sie nunmehr auf
eigne Faust und mit dem besten wissenschaftlichen Anstande den „ Wünschen
ihres Herzens" nachgehen dürfen. Insgleichen: wer dürfte es nunmehr den Agnos-
tikern verargen, wenn sie, als die Verehrer des Unbekannten und Geheimnissvol-
len an sich, das Fragezeichen selbst jetzt als Gott anbeten?] Was schein-
bar aussieht wie eine Kürzestrekapitulation der Philosophiegeschichte im An-
schluss an Kants „Schleichweg" (dazu NK KSA 6, 176, 27-32) - mit Ausartung
einerseits in Richtung eines spekulativ enthemmten Idealismus, andererseits
in Richtung eines radikalen Agnostizismus -, ist tatsächlich die Adaption einer
Passage aus Harald Höffdings Psychologie in Umrissen, die wiederum Karl Wil-
helm Idelers Biographien Geisteskranker (1841) zitiert: „Oft kann nun inmitten
der grössten Verzweiflung ein plötzliches Umschlagen der Finsternis in Licht
eintreten ([...]). Durch einen gewissen Instinkt der Selbsterhaltung findet das
Gemüt Ersatz für das Verlorne in einer eingebildeten Welt. ,Eine solche Ge-
mütslage,' sagt Ideler von einer Kranken, die /390/ aus unglücklicher Liebe
wahnsinnig wurde, kann, wenn wieder einige Sammlung möglich wird, nur
einen zwiefachen Ausgang nehmen: entweder die Seele versinkt in die finsters-
te Schwermut, wenn die Gewissheit ihres Verlustes sie zu Boden drückt; oder
wenn es ihr nicht an Widerstandskraft fehlt, zwingt sie sich eine Täuschung
auf, welche ihr die Erfüllung der heissesten Wünsche verspricht... Das ganze
Streben des Geisteskranken ist fortan darauf hingerichtet, jenen Wahn immer
mehr in Uebereinstimmung mit dem Drange des Herzens auszubilden... und
mit sophistischer Dialektik alle Widersprüche zu beseitigen, in welche er zur
wirklichen Welt getreten ist.'" (Höffding 1887, 389 f. N.s Unterstreichungen.
Zum „Instinkt der Selbsterhaltung" siehe NK KSA 6, 146, 5 f.) An den Rand hat
N. zum letzten Satz notiert: „die moral. Ideale u. die ,Agnostiker'" (Höffding
1887, 390). Siehe auch die bei Höffding fast unmittelbar vorangehende Passage
in NK 373, 33-374, 3.
deren Stelle, an der N. ihn gebraucht, weitergefasst wird und neben dem Ve-
danta auch den amerikanischen Transzendalismus Emersons und Thoreaus
mit einbegreift: „Die Transcendentalisten, welche finden, daß alle
menschliche Erkenntniß nicht den Wünschen ihres Herzens genugthut, viel-
mehr ihnen widerspricht und Schauder macht, — sie setzen unschuldig eine
Welt irgendwo an, welche dennoch ihren Wünschen entspricht, und die eben
nicht unserer Erkenntniß <sich> zugänglich zeigt: diese Welt, meinen sie, sei
die wahre Welt, im Verhältniß zu welcher unsere erkennbare Welt nur Täu-
schung ist. So Kant, so schon die Vedanta-Philosophie, so manche Amerika-
ner. — ,Wahr', das heißt für sie: was dem Wunsche unseres Herzens entspricht.
Ehemals hieß wahr: was der Vernunft entspricht" (NL 1886/87, KSA 12, 7[3],
254, 9-19).
405, 11-17 er hat ihnen jenen Schleichweg verrathen, auf dem sie nunmehr auf
eigne Faust und mit dem besten wissenschaftlichen Anstande den „ Wünschen
ihres Herzens" nachgehen dürfen. Insgleichen: wer dürfte es nunmehr den Agnos-
tikern verargen, wenn sie, als die Verehrer des Unbekannten und Geheimnissvol-
len an sich, das Fragezeichen selbst jetzt als Gott anbeten?] Was schein-
bar aussieht wie eine Kürzestrekapitulation der Philosophiegeschichte im An-
schluss an Kants „Schleichweg" (dazu NK KSA 6, 176, 27-32) - mit Ausartung
einerseits in Richtung eines spekulativ enthemmten Idealismus, andererseits
in Richtung eines radikalen Agnostizismus -, ist tatsächlich die Adaption einer
Passage aus Harald Höffdings Psychologie in Umrissen, die wiederum Karl Wil-
helm Idelers Biographien Geisteskranker (1841) zitiert: „Oft kann nun inmitten
der grössten Verzweiflung ein plötzliches Umschlagen der Finsternis in Licht
eintreten ([...]). Durch einen gewissen Instinkt der Selbsterhaltung findet das
Gemüt Ersatz für das Verlorne in einer eingebildeten Welt. ,Eine solche Ge-
mütslage,' sagt Ideler von einer Kranken, die /390/ aus unglücklicher Liebe
wahnsinnig wurde, kann, wenn wieder einige Sammlung möglich wird, nur
einen zwiefachen Ausgang nehmen: entweder die Seele versinkt in die finsters-
te Schwermut, wenn die Gewissheit ihres Verlustes sie zu Boden drückt; oder
wenn es ihr nicht an Widerstandskraft fehlt, zwingt sie sich eine Täuschung
auf, welche ihr die Erfüllung der heissesten Wünsche verspricht... Das ganze
Streben des Geisteskranken ist fortan darauf hingerichtet, jenen Wahn immer
mehr in Uebereinstimmung mit dem Drange des Herzens auszubilden... und
mit sophistischer Dialektik alle Widersprüche zu beseitigen, in welche er zur
wirklichen Welt getreten ist.'" (Höffding 1887, 389 f. N.s Unterstreichungen.
Zum „Instinkt der Selbsterhaltung" siehe NK KSA 6, 146, 5 f.) An den Rand hat
N. zum letzten Satz notiert: „die moral. Ideale u. die ,Agnostiker'" (Höffding
1887, 390). Siehe auch die bei Höffding fast unmittelbar vorangehende Passage
in NK 373, 33-374, 3.