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590 Zur Genealogie der Moral

Hier jedoch hat die Parze den „Beschaulichen'" (406, 28) entmannt. Den Vor-
wurf der Kastration adressiert N.s Spätwerk häufig an das Christentum, vgl.
z. B. NK KSA 6, 83, 2-4.
407, 5-8 unversehens kommen mir dabei anakreontische Launen. Diese Natur,
die dem Stier das Horn, dem Löwen das x^op' oöovrwv gab, wozu gab mir die
Natur den Fuss?... Zum Treten, beim heiligen Anakreon!] N. paraphrasiert und
zitiert - „xdop' oöovtwv" ist eine „Kluft von Zähnen" - hier Gedicht 24 aus
den Anakreonteia, einer anonymen antiken Gedichtsammlung, die unter dem
Namen des griechischen Lyrikers Anakreon umlief. N. hatte als eine seiner al-
lerersten Veröffentlichungen 1868 im Literarischen Centralblatt Valentin Roses
Neuausgabe dieser Sammlung besprochen. Dort lautet das Gedicht: „Ovou;
KEpaTa Tavpoig, / onÄdg ö'eöwkev i'nnoiq, / noöwKiqv ÄaywoTg, / Atonal xaop'
oöovtwv, / töR; ix^voiv t6 v^ktöv, / toR; opveotq neTanOai, / Tote; dvöpdoiv
cppovqpa. / yuvaify ovk et' eip- / T' ovv öiöwoi; KÖiÄÄog / ölvt' doniöwv
dnapwy, / öivt' eyxewv dndvTwv / vlkoiöe Kai oiöqpov / Kai nvp KoAq Tic; ovoa."
(Anacreontis Teii quae vocantur EYMHOEIAKA HMIAMBIA 1868, 26, N.s Unter-
streichung.) In der Anakreontische Lieder betitelten Übersetzung von Eduard
Mörike (dort unter der Überschrift „Naturgaben" als Nr. 55) wird das Gedicht
wie folgt wiedergegeben: „Es gab Natur die Hörner / Dem Stier, dem Roß die
Hufe; / Schnellfüßigkeit dem Hasen, / Dem Löwen Rachenzähne, / Den Fi-
schen ihre Flossen, / Den Vögeln ihre Schwingen / Und den Verstand dem
Manne. / - So bliebe nichts den Frauen? / Was gab sie diesen? - Schönheit: /
Statt aller unsrer Schilde, / Statt aller unsrer Lanzen! / Ja über Stahl und Feu-
er / Siegt Jede, wenn sie schön ist" (Anakreon 1864, 131).
407, 15-17 Aber ich mag alle diese koketten Wanzen nicht, deren Ehrgeiz uner-
sättlich darin ist, nach dem Unendlichen zu riechen, bis zuletzt das Unendliche
nach Wanzen riecht] Das erinnert - Nietzsche 1998, 166 - zusammen mit 406,
28-31 an ein Exzerpt in NL 1884, KSA 11, 26[446], 269, 4-10: „Renan, von dem
Doudan sagt: ,er giebt den Leuten seiner Generation, was sie in allen Sachen
wollen, des bonbons, qui sentent l'infini'. ,Ce style reveur, doux, insinuant,
tournant autour des questions sans beaucoup les serrer, ä la maniere des petits
serpents. C'est aux sons de cette musique-lä, qu'on se resigne
ä tant s'amuser de tout, qu'on supporte des despotismes en
revassant la liberte.'" (Die französischen Passagen übersetzt: „,Bonbons,
die nach Unendlichkeit schmecken'. ,Dieser träumerische Stil, sanft, schmeich-
lerisch, der um die Fragen schleicht, ohne sie stark anzupacken, in der Art
kleiner Schlangen. Es ist zum Klang dieser Musik, dass man sich
damit begnügt, sich derart über alles zu amüsieren, dass
man den Despotismus erträgt, während man die Freiheit er-
 
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