Stellenkommentar GM III 27, KSA 5, S. 408 593
die „Antisemiten" ausgewiesen (407, 24 f.). Nun haben die Vorzeige-Antisemi-
ten in N.s unmittelbarer Umgebung, seine Schwester Elisabeth Förster und sein
Schwager Bernhard Förster 1886 genau das getan, was N. hier empfiehlt, näm-
lich ihre „Schiffsladungen von nachgemachtem Idealismus" nach Übersee
verfrachtet, genauer gesagt: nach Paraguay, wo sie das rein ,arische' Siedler-
dorf Nueva Germania gründeten. Die satirische Gegenwartsdiagnose, die be-
schreibt, wie die europäischen Kolonialmächte ihre militärisch-ökonomischen
Interessen mit einer angeblichen zivilisatorisch-missionarischen Sendung be-
mänteln, adressiert also nicht nur die Weltpolitik, sondern durchaus auch N.s
nächstes familiäres Umfeld.
Der Ideal- und Moralexport aus Europa in den Rest der Welt hat sich im
20. Jahrhundert verwirklicht, als sollte diese Satire Realität werden, wohl als
Fortsetzung des Imperialismus mit anderen Mitteln, nachdem die militärischen
Mittel erschöpft waren: Idealisierung und Moralisierung als Triumph des Kom-
merzes.
408, llf. wie viel Tonnen verzuckerten spirituosen Mitgefühls (Firma: la religion
de la souffrance)] Im Druckmanuskript ist das ein Einschub auf einem nachge-
schobenen Blatt (GSA 71/27,2, fol. 65r). Die französische Formel für „die Religi-
on des Leidens" hat N. aus Paul Bourgets Roman Un crime d'amour, siehe zu
den Einzelheiten NK KSA 5, 36, 31-34, ferner Campioni 1990, 531 f. u. Thatcher
1989, 598.
408, 13 „edler Entrüstung"] Vgl. NK 370, 16.
408, 18 Ideal-Götzen] Dass Ideale zu Götzen geworden seien und es sie zu
bekämpfen gelte, wird 1888 eine Grundintuition der Götzen-Dämmerung sein,
vgl. z. B. NK KSA 6, 57, 19 u. NK KSA 6, 58, 9-13.
408, 21-23 Aber was rede ich von Muth: hier thut Eins nur Noth, eben die Hand,
eine unbefangne, eine sehr unbefangne Hand...] In EH UB 1 behauptet das
N.-Ich, die Unzeitgemässen Betrachtungen könnten davon zeugen, dass es ein
gefährlich freies „Handgelenk" habe, vgl. dazu NK KSA 6, 316, 5 f. Die freie,
unbefangene Hand kann leicht Waffen führen.
27.
Die wissenschafts- und gesellschaftsdiagnostischen Einzelheiten, die die bei-
den vorangegangenen Abschnitte erörtert haben, schiebt GM III 27 im Hinblick
auf das eigentliche „Problem von der Bedeutung des asketischen Ideals"
(408, 28 f.) als nebensächlich beiseite. Entscheidend sei vielmehr, dass dem
die „Antisemiten" ausgewiesen (407, 24 f.). Nun haben die Vorzeige-Antisemi-
ten in N.s unmittelbarer Umgebung, seine Schwester Elisabeth Förster und sein
Schwager Bernhard Förster 1886 genau das getan, was N. hier empfiehlt, näm-
lich ihre „Schiffsladungen von nachgemachtem Idealismus" nach Übersee
verfrachtet, genauer gesagt: nach Paraguay, wo sie das rein ,arische' Siedler-
dorf Nueva Germania gründeten. Die satirische Gegenwartsdiagnose, die be-
schreibt, wie die europäischen Kolonialmächte ihre militärisch-ökonomischen
Interessen mit einer angeblichen zivilisatorisch-missionarischen Sendung be-
mänteln, adressiert also nicht nur die Weltpolitik, sondern durchaus auch N.s
nächstes familiäres Umfeld.
Der Ideal- und Moralexport aus Europa in den Rest der Welt hat sich im
20. Jahrhundert verwirklicht, als sollte diese Satire Realität werden, wohl als
Fortsetzung des Imperialismus mit anderen Mitteln, nachdem die militärischen
Mittel erschöpft waren: Idealisierung und Moralisierung als Triumph des Kom-
merzes.
408, llf. wie viel Tonnen verzuckerten spirituosen Mitgefühls (Firma: la religion
de la souffrance)] Im Druckmanuskript ist das ein Einschub auf einem nachge-
schobenen Blatt (GSA 71/27,2, fol. 65r). Die französische Formel für „die Religi-
on des Leidens" hat N. aus Paul Bourgets Roman Un crime d'amour, siehe zu
den Einzelheiten NK KSA 5, 36, 31-34, ferner Campioni 1990, 531 f. u. Thatcher
1989, 598.
408, 13 „edler Entrüstung"] Vgl. NK 370, 16.
408, 18 Ideal-Götzen] Dass Ideale zu Götzen geworden seien und es sie zu
bekämpfen gelte, wird 1888 eine Grundintuition der Götzen-Dämmerung sein,
vgl. z. B. NK KSA 6, 57, 19 u. NK KSA 6, 58, 9-13.
408, 21-23 Aber was rede ich von Muth: hier thut Eins nur Noth, eben die Hand,
eine unbefangne, eine sehr unbefangne Hand...] In EH UB 1 behauptet das
N.-Ich, die Unzeitgemässen Betrachtungen könnten davon zeugen, dass es ein
gefährlich freies „Handgelenk" habe, vgl. dazu NK KSA 6, 316, 5 f. Die freie,
unbefangene Hand kann leicht Waffen führen.
27.
Die wissenschafts- und gesellschaftsdiagnostischen Einzelheiten, die die bei-
den vorangegangenen Abschnitte erörtert haben, schiebt GM III 27 im Hinblick
auf das eigentliche „Problem von der Bedeutung des asketischen Ideals"
(408, 28 f.) als nebensächlich beiseite. Entscheidend sei vielmehr, dass dem