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Immo v. Hattingberg: Sensibilitätsuntersuchungen
Was diese Deutung für das Verständnis krankhafter Erschei-
nungen besagt, macht man sich am anschaulichsten klar an der
„reinen Tastagnosie“ Wernicke’s und an den Theorien, die um
sie gebildet wurden (55—63).
Das wesentliche dieser Störung besteht darin, daß der Kranke
durch Betasten nichts erkennt, während die elementaren Empfin-
dungen des Druckes, Schmerzes usw., in manchen Fällen auch
die Leistungen der „Tiefensensibilität“, ja sogar das Erkennungs-
vermögen für Form und Stoff des getasteten Gegenstandes er-
halten sein können. Es wurde zunächst angenommen, daß in
diesen Fällen die Assoziationsbahnen oder die Zentren der zu-
sammenfassenden Erkenntnis geschädigt sind, während die
Zentren der einfachen Empfindungen erhalten bleiben, v. Weiz-
säcker versuchte nun unter Ablehnung dieser anatomischen Vor-
stellungen den „Funktionswandel“ zur Erklärung der Taststörung
heranzuziehen. Nach seiner Theorie versagt die Tastwahrnehmung
in diesen Fällen nicht, weil bestimmte Assoziationsbahnen aus-
gefallen sind, sondern weil der Erregungsablauf im ganzen sen-
siblen System anders geworden ist. Durch die Veränderlichkeit
des Empfindungscharakters, der Empfindungsdauer und -heftig-
keit wird das Zusammenspiel der Sinneselemente gestört.
Mit diesen Vorstellungen rückt die Frage nach dem Erregungs-
ablauf in den sensiblen Bahnen bzw. ihren Umschaltstellen in
den Vordergrund der Betrachtung, wenn wir die Störung der
Tastleistung untersuchen wollen. Es muß jetzt die Frage beant-
wortet werden, ob wir überhaupt berechtigt sind, aus dem Um-
stimmungsversuch mit mechanischen Reizen (Stein) Schlüsse auf
Veränderungen im Erregungsablauf zu ziehen, bzw. wieweit an-
dere Ursachen, z.B. Aufmerksamkeit, die Beständigkeit der Schwelle
beeinflussen können. Beim Studium der hier geleisteten Vorar-
beiten stößt man auf empfindliche Kenntnislücken.
Zunächst wissen wir noch sehr wenig über den Grad der
„normalen“ Schwellenveränderlichkeit bei verschiedenen Krank-
heiten. Die Untersuchungen der Physiologen sind ja fast aus-
nahmslos an besonders geschulten und urteilsfähigen Selbst-
beobachtern angestellt. Und doch betont schon v. Frey wieder-
holt (14a, S. 220), daß die Schwelle des einzelnen Punktes auch
bei gesunden Versuchspersonen veränderlich ist. Wie verhält sich
also die Schwelle, wenn Störungen der Aufmerksamkeit, man-
gelnde Selbstbeobachtung hinzukommen? Nach Beringer und
Immo v. Hattingberg: Sensibilitätsuntersuchungen
Was diese Deutung für das Verständnis krankhafter Erschei-
nungen besagt, macht man sich am anschaulichsten klar an der
„reinen Tastagnosie“ Wernicke’s und an den Theorien, die um
sie gebildet wurden (55—63).
Das wesentliche dieser Störung besteht darin, daß der Kranke
durch Betasten nichts erkennt, während die elementaren Empfin-
dungen des Druckes, Schmerzes usw., in manchen Fällen auch
die Leistungen der „Tiefensensibilität“, ja sogar das Erkennungs-
vermögen für Form und Stoff des getasteten Gegenstandes er-
halten sein können. Es wurde zunächst angenommen, daß in
diesen Fällen die Assoziationsbahnen oder die Zentren der zu-
sammenfassenden Erkenntnis geschädigt sind, während die
Zentren der einfachen Empfindungen erhalten bleiben, v. Weiz-
säcker versuchte nun unter Ablehnung dieser anatomischen Vor-
stellungen den „Funktionswandel“ zur Erklärung der Taststörung
heranzuziehen. Nach seiner Theorie versagt die Tastwahrnehmung
in diesen Fällen nicht, weil bestimmte Assoziationsbahnen aus-
gefallen sind, sondern weil der Erregungsablauf im ganzen sen-
siblen System anders geworden ist. Durch die Veränderlichkeit
des Empfindungscharakters, der Empfindungsdauer und -heftig-
keit wird das Zusammenspiel der Sinneselemente gestört.
Mit diesen Vorstellungen rückt die Frage nach dem Erregungs-
ablauf in den sensiblen Bahnen bzw. ihren Umschaltstellen in
den Vordergrund der Betrachtung, wenn wir die Störung der
Tastleistung untersuchen wollen. Es muß jetzt die Frage beant-
wortet werden, ob wir überhaupt berechtigt sind, aus dem Um-
stimmungsversuch mit mechanischen Reizen (Stein) Schlüsse auf
Veränderungen im Erregungsablauf zu ziehen, bzw. wieweit an-
dere Ursachen, z.B. Aufmerksamkeit, die Beständigkeit der Schwelle
beeinflussen können. Beim Studium der hier geleisteten Vorar-
beiten stößt man auf empfindliche Kenntnislücken.
Zunächst wissen wir noch sehr wenig über den Grad der
„normalen“ Schwellenveränderlichkeit bei verschiedenen Krank-
heiten. Die Untersuchungen der Physiologen sind ja fast aus-
nahmslos an besonders geschulten und urteilsfähigen Selbst-
beobachtern angestellt. Und doch betont schon v. Frey wieder-
holt (14a, S. 220), daß die Schwelle des einzelnen Punktes auch
bei gesunden Versuchspersonen veränderlich ist. Wie verhält sich
also die Schwelle, wenn Störungen der Aufmerksamkeit, man-
gelnde Selbstbeobachtung hinzukommen? Nach Beringer und