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Bluntschli, Hans; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse: Abteilung B, Biologische Wissenschaften (1919, 6. Abhandlung): Anatomie als pädagogische Aufgabe — Heidelberg, 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.36558#0007
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Anatomie als pädagogische Aufgabe.

(B. 6) 7

Frage bei, warum er also und nicht anders gestaltet, wodurch
er befähigt sei seine so außerordentlich vielgestaltigen Leistungen
zu erfüllen. Anatomie richtig erfaßt ist also Morphologie im
Sinne Goethes und hat sich ebenso zu hüten vor der einseitigen
Überschätzung des rein Formalen, wofür sich Anzeichen aus der
mittelalterlichen Mystik bis in die Philosophie der jüngeren Ver-
gangenheit hinübergerettet haben (,,Form ist des Stoffes Wesen"),
wie vor der Unterwertung der formalen Erscheinung zu der nament-
lich unsere moderne Physiologie bisweilen neigt. So wenig als sich
Physiologie ohne stete Rücksichtnahme auf anatomische Tatsachen
lehren läßt, so wenig kann eine Anatomie ihre volle Aufgabe im
einfachen Beschreiben der Strukturverhältnisse sehen, vielmehr
bedarf sie, um im Toten das Lebendige vor dem geistigen Auge
erstehen zu lassen, allüberall auch physiologischer Gesichtspunkte.
Erst dadurch wird sie zur wahren Morphologie.
Wie in den übrigen Wissenschaften hat sich auch in unserem
Fach mit den Zeiten eine weitgehende Aufteilung in Sonder-
disziplinen geltend gemacht. Das vielgepriesene Prinzip der Arbeits-
teilung strebt nach Auflösung in Spezialfächer, der gewaltige Zu-
drang zum medizinischen und naturwissenschaftlichen Studium
hat die notwendige Arbeitsleistung der Lehrer vervielfältigt, ihnen
an Zeit für reine Forschungstätigkeit Vieles genommen und sie
damit zu gewisser Beschränkung gezwungen. Das Unerfreuliche
und meiner Überzeugung nach Gefahrdrohende, was sich damit
einstellte, liegt darin, daß diese erzwungene Selbstbeschränkung
methodische Einseitigkeit im Forschen und Lehren herbei-
führte, während das Objekt unserer Wissenschaft gerade metho-
discher Vielseitigkeit bedarf um wahrhaft verstanden und
erklärt werden zu können. Es wird ja wohl immer so bleiben, daß
auf einem so weiten und so verschiedenartigster Betrachtungsweise
zugänglichen Gebiet, wie es die ungeheuer komplexe Organisation
unseres Körpers ist, der Einzelne niemals alle Erkenntnistatsachen
in gleich vollendetem Grade sich aus eigener Erfahrung erwerben
kann, aber das muß gefordert werden, daß der Lehrer der mensch-
lichen Anatomie, zumal dort, wo er zu Anfängern im Studium
spricht, von einer Warte aus sprechen kann, die sich bewußt über
das Niveau methodischer Einseitigkeit erhebt. Alle unsere ver-
schiedenartigen Methoden dienen nur dazu, Wege zu erschließen
zum vollen Verständnis, aber kein einziger dieser Wege kann
solches für sich allein ausschließlich vermitteln. Im Kampfe um
 
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