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Bluntschli, Hans; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse: Abteilung B, Biologische Wissenschaften (1919, 6. Abhandlung): Anatomie als pädagogische Aufgabe — Heidelberg, 1919

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.36558#0013
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Anatomie ais pädagogische Aufgabe.

(B, 6) 13

einzig dazu auftürmt um dann mit souveränem Ton das Fazit
zu ziehen: so und nicht anders liegen die Dinge, das heißt mit
anderen Worten in doktrinärer Weise lehrt, sondern, die mit weiser
Überlegung den Willen im Lernenden kräftigt: selbst ein Urteil
über die Tatsachen zu gewinnen. Solche Erziehungskunst trägt
wohl überlegte und ausgewählt prägnante Tatsachen, die auf den
allerverschiedensten Forschungswegen gewonnen sind, zusammen,
legt sie vor dem Schüler klar und regt durch Fragen den Beurtei-
lungswillen an. Sie klärt auf über die verschiedenen Gesichts-
winkel unter denen das Tatsächliche geschaut werden kann und
wo der Lehrer sein Urteil ausspricht, tut er es nicht mit der zähen
Starrheit des Doktrinärs und Dogmatikers, sondern mit der Be-
scheidenheit des Urteiles, das allen wirklich freien und beweglichen
Geistern eigen ist. Bei solcher Art des Lehrens wächst im Innern
des Schülers nicht das Wissen das vom Lehrer kommt, sondern
das freie und freudig machende wissenschaftliche Erlebnis. Er
hat den Eindruck, nicht nur aufgenommen, sondern auch durch
eigene geistige Mitarbeit selbst etwas gegeben zu haben und solches
Wissen, das auf eigenen Erfahrungen beruht, das hat wirkliche und
tiefe Bildungskraft dem ganzen Alenschen gegenüber, unter ihrem
Einfluß vergrößern sich nicht nur die Kenntnisse, sondern wächst
auch der Charakter, gestaltet sich der aufrechte, starke und damit
auch der Hingabe fähige Alensch. Diese Art der Erziehung hatte
einst viel größere Verbreitung an den dentschen Hochschulen, sie
war im großen und ganzen kennzeichnend für die ältere Schule,
da noch die Hörsäle klein und die Verhältnisse enge waren. Sie
scheint mir heute auch noch auf der Oberstufe, in den Labora-
torien für die Vorgerückteren vielfach realisiert zu sein, aber gerade
dort, wo sie am allermeisten not täte, im Unterricht mit den An-
fängern, ist sie durch die Flutwelle des Zudranges zur Hochschul-
bildung leider allzusehr in den Hintergrund getreten. Hier also
muß der Hebel angelegt werden.
In überfüllten riesigen Hörsälen werden unsere jüngsten Medi-
ziner in das Wissensgebiet der Anatomie eingeführt, indem ihnen
der Lehrer zunächst von den Knochen und Muskeln vorträgt.
Eine Überflut von Namen und Begriffen, eine Aneinanderreihung
von lauter nackten Tatsachen, eine systematische Zusammen-
stellung von unzähligem Einzelnen, das Fehlen von stetigen Hin-
blicken auf den Gesamtorganismus, kurzum die Ausbreitung von
totem Wissen, das einfach nicht lebendiges Begreifen werden
 
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