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Bluntschli, Hans; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse: Abteilung B, Biologische Wissenschaften (1919, 6. Abhandlung): Anatomie als pädagogische Aufgabe — Heidelberg, 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.36558#0018
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18 (B. 6)

H. BLUNTSCHLi:

tige Übersicht abgesteht. Gerade dieses aber ist demtiefstenlnteresse
der ärztlichen Kunst entgegen, fußt diese doch nicht so sehr auf
der Vielwisserei, ais auf der Unbefangenheit und Zielsicherheit des
selbständigen Urteilsvermögens, das allezeit die Gesamtübersicht
bewahrt und die inneren Zusammenhänge der Einzelerscheinungen
berücksichtigt. Der Arzt muß zweifellos ein gerüttelt Maß von
Einzelkenntnissen haben, aber erst dadurch, daß diese stets in
lebhafte Beziehungen zueinander gebracht sind, daß sie nicht
mehr um ihrer selbst wollen gewertet werden, sondern als notwen-
diges Korrelat des Gesamtorganismus bewußt sind, erheben sie
sich aus dem Rahmen von Dingen, die man auswendig lernt, zu
Bestandteilen von tieferem Sinn und erhöhter Bedeutung. Nur
in den Präparierübungen, durch fleißiges selbständiges Erarbeiten
der räumlichen Vorstellungen und der vielseitigen Beziehungen und
im steten lebendigen Verkehr mit dem immer erneut anregenden
und auf übersehene Zusammenhänge hinweisende Lehrer keimt
jener Erfahrungsschatz anatomischen Verständnisses, ohne den
der Arzt später vielen Aufgaben, die an ihn herantreten, unsicher
gegenübersteht. Einmal, und in der Regel nie wieder, ist dem Medi-
ziner diese Gelegenheit geboten, alle Teile des menschlichen Kör-
pers gleichmäßig und wirklich gründlichst durcharbeiten zu können.
Diese Gelegenheit voll auszunutzen ist sein eigenstes Interesse.
Dies gibt die überwiegende Mehrheit der Studierenden auch wohl
zu erkennen und kein Anatom wird sich entgehen lassen, dieses
Interesse durch alle nur mögliche Hilfe zu unterstützen. Aber wir
wullen doch nicht übersehen, daß auch da der Alaterialmangel und
die ungenügende Zahl der Lehrkräfte heute die Erfüllung der Auf-
gabe sehr erschwert. Die Bedingungen mögen an verschiedenen
Orten recht verschieden liegen, an nicht Wenigen sind sie schon
vor dem Kriege unzweifelhaft höchst schwierig geworden und der
guten Absicht konnte der wirkliche, dauernde Erfolg nicht mehr
voll entsprechen. Die Gründlichkeit des Arbeitern, die Schärfe
der Beobachtung hat darunter gelitten, so sehr auch der Lehrer
auf beides dringen mochte. Es ist verkehrt, wenn heute von seiten
mancher Praktiker die Forderung nach einer flotteren, kurso-
rischeren Art des Präparierens erhoben wird. Wer so redet, über-
sieht die enorm wichtige Aufgabe, die heute mehr als je neben dem
eigentlichen Wissensstoff den Präparierübungen zufällt, das Auge
zu exaktester Beobachtung, den Sinn zu peinlicher Gründlichkeit
zu schulen. Ein scharfes Auge, das auf alles achtet und den Willen,
 
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