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Windelband, Wilhelm; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1910, 14. Abhandlung): Über Gleichheit und Identität — Heidelberg, 1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.32160#0020
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20

Wilhelm Windelband:

vertauscht wird, und das den Athenern doch, selhst nachdem
so alle Teile ergänzt sind, das alte heilige Schiff bleibt. Das
bedentsamste Beispiel endlich bietet der organische Stoff-
wechsel dar, vermöge dessen die Materie im Lebewesen so
stetig ausgetauscht wird, daß nach einer Anzahl von Jahren
kein Atom mehr in ihm dasselhe ist, während seine Identität
lediglich in der beharrenden Form zu suchen ist, Und auch die
Gleichheit der Form ist dahei nur in unbestimmter Allgemein-
heit, nicht mit exakter Yollständigkeit maßgebend. Verlust oder
Verkümmerung einzelner Glieder heben die Identität des Or-
ganismus nicht auf. Wenigstens in gewissen Grenzen: aber ist
der enthauptete Frosch, der für die Physiologie so wichtig ist,
noch „dassell)e Wesen“ wie zuvor?

Aher der Organismus führt uns noch weiter. Verfolgen wir
ihn in seiner Entwicklung bis zu seiner letzten Gestalt, vom
Nußkern bis zum Baum, vom Emhryo his zum Greis, so ist
auch in 'seiner Form, soweit sie Gegenstand unsrer Wahr-
nehmung ist, nichts, was sich gleich bliehe: und doch ist es
dasselhe, identische Individuum, das in dieser Mannigfaltigkeit
von Erscheinungen uns entgegentritt. Hier ist die Identität,
den Eindrücken nach, die uns zu ihrer Annahme veranlassen,
von der Gleichheit völlig ahgelöst und scheint ganz auf die
kontinuierliche Allmählichkeit der Wandlungen angewiesen zu
sein. Und ist es denn anders mit der Identität eines Volks?
Nach etwa 100 Jahren ist jedesmal die Masse der Individuen,
aus denen es hestelit, völlig ausgetauscht, im Laufe seiner Ge-
schichte schnürt es Stämme von sich ah und assimiliert sich
neue; im Wandel der Generationen wechselt es vielleicht sein
Land, jedenfalls seine äußeren Lehensformen, seine staatliche,
verfassungshafte Gestaltung, seine Interessen und Tätigkeiten;
ja selhst sein Eigenstes, seine Sprache, ist vermöge ihrer inneren
Lebendigkeit und ehenso ihrer äußeren Geschicke in stetiger
Umbildung begriffen: wo ist das Identische in seiner histori-
schen Erscheinung, um dessen willen es durch die Jahr-
tausende hin „dasselbe Volk“ genannt werden darf? Und wo
reißt etwa solche Identität ah ? Sind die heutigen Griechen, wie
es die Namensbezeichnung nahelegen möchte, noch „dasselhe
Volkswesen“ wie die alten?

Alle derartigen Fragen, die eine sachliche Lösung ver-
langen, beweisen, daß die Kategorie der Identität in ihrer An-
 
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