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Franz Rosenzweig:
Gedanken des Systems entwicklungsfähig gemacht zu haben.
Schelling hat diesen Augenblick ergriffen. Aber er benannte sein
Vorhaben ein „Gegenstück zu Spinozas Ethik“, und damit blieb
er an Fichte hängen grade in diesem Augenblick, wo er den
von jenem gezogenen „magischen Kreis“ zu durchbrechen sich
anschickte.
Denn indem er die Spinozasche Verabsolutierung des Seins
als die eine Möglichkeit anerkannte — wie ja auch Fichte in seiner
bekannten Äußerung, was für eine Philosophie man ergreife, hänge
davon ab, was für ein Mensch man sei — beschränkte er sein
eigenes Vorhaben auf die Verwirklichung der „andern“, das hieß
aber: der Fichteschen, Möglichkeit. Und dadurch verzichtete er
■— zunächst — auf den eigentlichsten Gewinn Kants, die Eins-
setzung von Form und Inhalt des Erkennens; er blieb noch in
dem magischen Kreis der Form, statt zum Inhalt durchzubrechen.
So erklärt es sich, daß die älteren Äußerungen über den Begriff
des Systems, die sich in dem Sommer 1795 abgeschlossenen Teil
der Philosophischen Briefe finden, den Fichteschen Gedanken der
unendlichen Tat zu dem, man könnte sagen, Lessingsc.hen des
„nur unendlichen Genusses“ der unendlichen Wahrheit zu-
spitzten und die einzige Gewißheit des Systems in der praktischen
„unseres Strebens es zu vollenden“ fanden: „nichts empört den
philosophischen Kopf mehr, als wenn er hört, daß von nun an
alle Philosophie in den Fesseln eines einzelnen Systems gefangen
liegen soll. Nie hat er sich selbst größer gefühlt, als da er eine
Unendlichkeit des Wissens vor sich erblickte. Die ganze Erhaben-
heit seiner Wissenschaft bestand eben darin, daß sie nie vollendet
sein würde. In dem Augenblicke, da er selbst sein System vollendet
zu haben glaubte, würde er sich selbst unerträglich werden. Er
hörte in dem Augenblick auf, Schöpfer zu sein und sänke zum
Instrument seines Geschöpfes herab“. Diese Einsicht in den not-
wendig praktischen Charakter aller Systembildung habe schon
den Begründer des Spinozismus dahin gebracht, sein System
„Ethik“ zu nennen. Aus der gleichen Einsicht heraus umschreibt
auch Schelling damals, März 1795, sein Vorhaben als ein „Gegen-
stück zu Spinozas Ethik“.
Aber er ist dabei nicht stehen geblieben. Wenn er schon in
dem soeben angeführten Zusammenhang für die „Wissenschafts-
lehre“ eine über die Subjektivität und notwendige Vielheit der
Franz Rosenzweig:
Gedanken des Systems entwicklungsfähig gemacht zu haben.
Schelling hat diesen Augenblick ergriffen. Aber er benannte sein
Vorhaben ein „Gegenstück zu Spinozas Ethik“, und damit blieb
er an Fichte hängen grade in diesem Augenblick, wo er den
von jenem gezogenen „magischen Kreis“ zu durchbrechen sich
anschickte.
Denn indem er die Spinozasche Verabsolutierung des Seins
als die eine Möglichkeit anerkannte — wie ja auch Fichte in seiner
bekannten Äußerung, was für eine Philosophie man ergreife, hänge
davon ab, was für ein Mensch man sei — beschränkte er sein
eigenes Vorhaben auf die Verwirklichung der „andern“, das hieß
aber: der Fichteschen, Möglichkeit. Und dadurch verzichtete er
■— zunächst — auf den eigentlichsten Gewinn Kants, die Eins-
setzung von Form und Inhalt des Erkennens; er blieb noch in
dem magischen Kreis der Form, statt zum Inhalt durchzubrechen.
So erklärt es sich, daß die älteren Äußerungen über den Begriff
des Systems, die sich in dem Sommer 1795 abgeschlossenen Teil
der Philosophischen Briefe finden, den Fichteschen Gedanken der
unendlichen Tat zu dem, man könnte sagen, Lessingsc.hen des
„nur unendlichen Genusses“ der unendlichen Wahrheit zu-
spitzten und die einzige Gewißheit des Systems in der praktischen
„unseres Strebens es zu vollenden“ fanden: „nichts empört den
philosophischen Kopf mehr, als wenn er hört, daß von nun an
alle Philosophie in den Fesseln eines einzelnen Systems gefangen
liegen soll. Nie hat er sich selbst größer gefühlt, als da er eine
Unendlichkeit des Wissens vor sich erblickte. Die ganze Erhaben-
heit seiner Wissenschaft bestand eben darin, daß sie nie vollendet
sein würde. In dem Augenblicke, da er selbst sein System vollendet
zu haben glaubte, würde er sich selbst unerträglich werden. Er
hörte in dem Augenblick auf, Schöpfer zu sein und sänke zum
Instrument seines Geschöpfes herab“. Diese Einsicht in den not-
wendig praktischen Charakter aller Systembildung habe schon
den Begründer des Spinozismus dahin gebracht, sein System
„Ethik“ zu nennen. Aus der gleichen Einsicht heraus umschreibt
auch Schelling damals, März 1795, sein Vorhaben als ein „Gegen-
stück zu Spinozas Ethik“.
Aber er ist dabei nicht stehen geblieben. Wenn er schon in
dem soeben angeführten Zusammenhang für die „Wissenschafts-
lehre“ eine über die Subjektivität und notwendige Vielheit der