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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0054
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54

Gerhard Ritter:

bisher gründliche Untersuchungen in der Hauptsache nur für die
spätesten deutschen Vertreter des Okkamismus vor; Gabriel Biel
und die Erfurter um 1500 hat das Interesse der Lutherforschung
beleuchtet; im übrigen herrscht mehr oder weniger das Halb-
dunkel. Keiner dieser Lehrer des Reformators war mehr als
Spezialist auf einem Fachgebiete — oder mehreren verwandten.
Die Zeit des philosophisch-theologischen Universalismus war da-
mals längst im Verwelken. Ist es nicht eine ganz einseitige Auf-
fassung, wenn wir nach dem Bilde dieser Spätesten die ganze
deutsche Entwicklung zu beurteilen gewöhnt sind ? Am Anfang
dieser Entwicklung steht Marsilius von Inghen, alle wesentlichen
Interessen der Scholastik zugleich umfassend, weithin wirkend als
Organisator, Lehrer und Autor. Er muß sich besser als jene zur
Aufhellung der wenig betretenen Pfade eignen, denen die Forschung
hier nachzugehen hat.
Darüber, daß Marsilius von Inghen als Erkenntnistheoretiker
grundsätzlich im Strome der nominalistischen Überlieferung
schwimmt, hat bereits unsere Betrachtung seiner Logik keinen
Zweifel gelassen. Seine Stellung zur Universalienfrage wird am
klarsten in seinem Abriß der Physik ausgesprochen1. Dort unter-
scheidet er — in wörtlicher Anlehnung an Buridan, Albert von
Sachsen und Antonius Andreas2 — zwischen dem universale in
causando, das als gemeinsame Ursache mehrerer Wirkungen (wie
z. B. Gott als ens universalissimum) in der Metaphysik zu behandeln
sei, und dem universale in praedicando de pluribus suppositis com-
mune, das für die Logik und Erkenntnislehre allein in Betracht
komme. Dagegen wird das Allgemeine in essendo, als eine Realität
außerhalb der Seele, auch in der Form der gemeinschaftlichen
Wesenheit mehrerer Einzeldinge3, ausdrücklich geleugnet. Die
Lösung der Universalienfrage mit Hilfe der Suppositionstheorie
ist also vollzogen. Sicher erkennbare Anklänge speziell an Okkams
Lehre dagegen zeigen die Schriften unseres Philosophen im ein-
zelnen nicht. Es ist mir überhaupt fraglich, ob er Okkams Schriften
im Original ausführlich gekannt hat; die spärlichen Zitate aus
1 abbreviationes libri physicorum, Druck nr. 13, Bl. 4.
2 Vgl. Prantl III, 278, N. 458. IV, 16, 64.
3 Nämlich als res extra animam existens, . . . idem et unum pluribus singu-
laribus loco et situ differenlibus communicatum. (1. c.) Ähnliche Ablehnung
des Wirklichkeitscharakters des universale in essendo in lib. sent. I, qu. 6,
art. 2 Bl. 38, b (zitiert bei Prantl, IV, 94, N. 370).
 
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