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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0056
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Gerhard Ritter:

Subjekt bestehen lassen. Aber er hatte doch wenigstens den
Versuch gemacht, mit Hilfe der Suppositionstheorie sich eine Vor-
stellung zu bilden von der „natürlichen“ gegenseitigen Beziehung'
des Draußen und Drinnen. Das alles läßt die Darstellung des
Marsilius beiseite, und die halbfertigen Ansätze Okkarns zu einer
Erfassung der Wirklichkeit als Phänomen bleiben damit abermals
stecken. Das ganze Interesse wendet sich vielmehr der genauen
Darstellung des genetischen Erkenntnisprozesses zu, der von den
sinnlichen Eindrücken bis zur wissenschaftlichen Abstraktion
auf steigt.
Die herkömmliche Unterscheidung zwischen sinnlicher und
intellektiver Erkenntnis findet sich auch hier, ebenso der okka-
mistische Grundsatz, daß alle Vernunfterkenntnis sich auf sinn-
licher Wahrnehmung aufbaut. Ähnlich wie bei Okkam1 spielt
die Frage nach dem Zustandekommen der Wahrnehmung und dem
hierbei erfolgenden Zusammenwirken von Sinnesvermögen und
Intellekt die Hauptrolle. Die reine Wahrnehmung der äußeren
Sinne (sensus exterior) erfaßt das Objekt als singuläre Erschei-
nung (singulare) in einem einfachen Akte der Perzeption (appre-
hensio), ohne zwischen den Elementen des Wahrgenommenen eine
Beziehung zu setzen (incomplexe), und zwar immer in unbestimmter
Weise (vagum). Z. B. wird im bloßen Sehen ohne Mitwirkung des
Verstandes nur der unbestimmte Einzeleindruck eines so oder so
Gefärbten mitsamt allen seinen individuellen Eigentümlichkeiten
wahrgenommen, soweit sie in den Umkreis des vom Sehvermögen
Erfaßbaren fallen: also außer der Farbe noch Ausdehnung, Gestalt,
Lage, numerische Einheit usw., aber alles dies nicht vom Gesamt-
eindruck unterschieden, sondern in ungeschiedener Einheit des
Sinneseindrucks zusammengefaßt (circumfle;re, implicite)2. Eben
diese Ungeschiedenheit der Eindrücke ist der Grund, weshalb der
rein sinnliche Eindruck niemals unter eine bestimmte Kategorie
fällt: im Sehen z. B. werden gewisse Bestimmungen der Qualität,
der Quantität, des Zustandes und des Ortes zugleich erfaßt. Über
diese Unbestimmtheit kann sich die bloße Sinnlichkeit niemals
erheben. Wohl kann auch der äußere Sinn, z. B. der Tastsinn, in
gewissem Sinne „urteilen“ über das von ihm wahrgenommene
1 Vgl. Siebeck, Arch. f. Ph. X (1897) 334. Weiterhin über Okkam:
Stöckl II 988 ff. Prantl III, 331 ff. Kühtmann 14 ff. L. Kugler, bes. 17 ff.
2 üb. sent. II, qu. 16, art. 1, Bl. 273. Vgl. ferner ibid. 1. I, qu. 2, art. 1,
Bl. 10b ff; abbrev. phys., Druck nr. 13, Bl. 4a ff.
 
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