Metadaten
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
60

Gerhard Ritter:

deutige Einleitung zur Physik des Stagiriten bezeichnete das
universale als das magis notum für das erkennende Subjekt, das
einzelne dagegen als das Spätere im Erkennen, obgleich im Zu-
sammenhang der Natur die einzelnen elementa principiaque das
Frühere seien1. Marsilius dagegen gibt sich — ohne ausdrückliche
Polemik gegen den phüosophus — viel Mühe, um zu beweisen, daß
noch vor dem universale das singulare vagum vom Intellekt erfaßt
werde. Unmöglich kann das Allgemeine früher in die Seele ein-
treten als das einzelne: wie sollte es wahrgenommen werden, und
wie sollte der Intellekt aus der vollendeten Anschauung des All-
gemeinen herabsteigen zur Wahrnehmung des verworrenen Ein-
zelnen ? Damit ist der erkenntnistheoretische Rationalismus deut-
lich abgewiesen. Das Allgemeine geht letztlich hervor aus der
sinnlichen Erfahrung. Die Parallelen dieser Erkenntnisgenese zu
dem modernen Empirismus eines Hobbes und Locke liegen auf der
Hand. Auch der Nominalismus ist ganz deutlich: das universale
ist ontologisch betrachtet nichts als ein subjektives DenkgebJde2.
Indessen zeigt sich hier in besonders charakteristischer Weise, daß
unser Philosoph ganz unbefangen eine genaue Analogie des Ver-
hältnisses zwischen den Begriffen mit dem gegenseitigen Verhältnis
der objektiven Dinge voraussetzt. Es ist nämlich nicht nur die
gegenseitige Ähnlichkeit der einem universale untergeordneten
Begriffe, sondern ganz ebenso die Ähnlichkeit der von ihnen ver-
tretenen Dinge, aus der der Allgemeinbegriff hervorgehen soll; ja
gelegentlich wird sogar — mit einer bedenklich zweideutigen Wen-
dung — diese Ähnlichkeit als die „Wesenheit'4 der Einzeldinge
bezeichnet, insofern diese Wesenheiten einander ähnliche Wir-
kungen in der Natur hervorbringen3. Schon Okkam hatte eine
teilweise Übereinstimmung der außermentalen Einzeldinge unter-
1 Ex universalibus ad singularia proficiscamur oportet; ipsum namque
totum sensu notius est, universale vero totum est quoddam. Übers, d. Job. Argy-
ropylus, Ausg. Lugduni 1558, p. 3.
2 lib. sent. I, 1. c. Bl. 10, d: Noticia communis est simplex apprehensio
rei ex modo sue significationis communis multis suppositis.
3 abbrev. phys. Bl. 4, d wird die Frage nach der metaphysischen We-
senheit des Allgemeinbegriffs homo als Oberbegriff von Sokrates und Plato
beantwortet: Hec est essentia Socratis, in quantum ab illa totaliter similes
effectus [secundum naturam] essentialiter nati sunt fieri effectibus essentie Pla-
tonis. Vgl. lib. sent. I, l.c. Bl. 10, d: Licet non sint res universales in essendo,
tarnen res singuläres aliquae sunt equaliter similiores quam alique, et ab ipsis. . .
sumuntur conceptus universales.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften