Gerhard Ritter:
72
mentars dar; recht deutlich zeigt vor allem die venetianische
Ausgabe der erstgenannten Abhandlung (Druck nr. 6-7) den Unter-
schied gegen die älteren scholastischen Methoden. Hier ist die
Arbeit des Marsilius mit einem gleichlaufenden Kommentar des
Egidius Romanus verbunden; während dieser sich nun müht,,
den — durch mechanische Wortübersetzung fast sinnlos entstellten
— lateinischen Text des Aristoteles wörtlich und sachlich zu
erläutern, stellt Marsilius ohne formelle Anlehnung an die Vorlage
eine Reihe von Quästionen auf, die in dem umständlichen Schema-
tismus der spätscholastischen Dialektiker hin- und hergewendet
werden. Da dasselbe Verfahren in allen noch zu besprechenden
Schriften wiederkehrt (der kurze Abriß der oben betrachteten parva
logicalia war davon frei geblieben)1, verweilen wir einen Augenblick
bei der Betrachtung dieser Darstellungsmethode.
Die Wurzeln ihrer Entstehung in den Schultraditionen der
lectio, disputatio, der Autoritätenmethode, dem sic et wo«-Verfahren
Abälards, der aristotelischen Dialektik und der älteren kanoni-
stischen Literatur lassen wir hier unberührt2. Ihre wuchernde Ent-
wicklung im späteren Mittelalter kann man am bequemsten an den
Sentenzenkommentaren seit Thomas von Aquino verfolgen. Bei
Thomas ist die ursprüngliche Beziehung zum Text der Vorlage noch
deutlich zu erkennen. Der Wortlaut des Lombarden wird stück-
weise (je eine distinctio) vorgelegt, alsdann sprachlich und inhalt-
lich erläutert (expositio textus) und eingeteilt (divisio); dann erst
folgt die Aufstellung der Quästionen, deren jede sogleich in Unter-
fragen (articuli) sich zerlegt. Nun erst folgt die eigentliche Erör-
terung in dem bekannten dreigliedrigen Schema der Dialektik:
Aufstellung bejahender Propositionen und Autoritäten, Entgegen-
stellung verneinender bzw. umgekehrt, Lösung, zunächst des
Problems (solutio), alsdann der aufgestellten Gegengründe (rationes).
Das alles geht knapp und rasch vor sich; jede Proposition hat ihre
Prämissen und ihre Konklusion, aber deren Aufstellung erfordert
1 Dagegen zeigt Druck nr. 1 gleichfalls das noch zu besprechende Schema.
Bemerkenswert ist hier jedoch die Anlehnung der Quaestionen an den stück-
weise abgedruckten Text des Aristoteles. Eine rein hermeneutische Text-
behandlung durch Egidius hat auch in diesem Falle der Herausgeber voraus-
geschickt.
2 Vgl. über diese ältere Entwicklung M. Grabmann, Geschichte der
scholastischen Methode II, Teil 2, cap. 2 bes. 219 ff., ferner 425 ff. u. M. de
Wulf Histoire de la philos. medievale, livre III, 173 ff.
72
mentars dar; recht deutlich zeigt vor allem die venetianische
Ausgabe der erstgenannten Abhandlung (Druck nr. 6-7) den Unter-
schied gegen die älteren scholastischen Methoden. Hier ist die
Arbeit des Marsilius mit einem gleichlaufenden Kommentar des
Egidius Romanus verbunden; während dieser sich nun müht,,
den — durch mechanische Wortübersetzung fast sinnlos entstellten
— lateinischen Text des Aristoteles wörtlich und sachlich zu
erläutern, stellt Marsilius ohne formelle Anlehnung an die Vorlage
eine Reihe von Quästionen auf, die in dem umständlichen Schema-
tismus der spätscholastischen Dialektiker hin- und hergewendet
werden. Da dasselbe Verfahren in allen noch zu besprechenden
Schriften wiederkehrt (der kurze Abriß der oben betrachteten parva
logicalia war davon frei geblieben)1, verweilen wir einen Augenblick
bei der Betrachtung dieser Darstellungsmethode.
Die Wurzeln ihrer Entstehung in den Schultraditionen der
lectio, disputatio, der Autoritätenmethode, dem sic et wo«-Verfahren
Abälards, der aristotelischen Dialektik und der älteren kanoni-
stischen Literatur lassen wir hier unberührt2. Ihre wuchernde Ent-
wicklung im späteren Mittelalter kann man am bequemsten an den
Sentenzenkommentaren seit Thomas von Aquino verfolgen. Bei
Thomas ist die ursprüngliche Beziehung zum Text der Vorlage noch
deutlich zu erkennen. Der Wortlaut des Lombarden wird stück-
weise (je eine distinctio) vorgelegt, alsdann sprachlich und inhalt-
lich erläutert (expositio textus) und eingeteilt (divisio); dann erst
folgt die Aufstellung der Quästionen, deren jede sogleich in Unter-
fragen (articuli) sich zerlegt. Nun erst folgt die eigentliche Erör-
terung in dem bekannten dreigliedrigen Schema der Dialektik:
Aufstellung bejahender Propositionen und Autoritäten, Entgegen-
stellung verneinender bzw. umgekehrt, Lösung, zunächst des
Problems (solutio), alsdann der aufgestellten Gegengründe (rationes).
Das alles geht knapp und rasch vor sich; jede Proposition hat ihre
Prämissen und ihre Konklusion, aber deren Aufstellung erfordert
1 Dagegen zeigt Druck nr. 1 gleichfalls das noch zu besprechende Schema.
Bemerkenswert ist hier jedoch die Anlehnung der Quaestionen an den stück-
weise abgedruckten Text des Aristoteles. Eine rein hermeneutische Text-
behandlung durch Egidius hat auch in diesem Falle der Herausgeber voraus-
geschickt.
2 Vgl. über diese ältere Entwicklung M. Grabmann, Geschichte der
scholastischen Methode II, Teil 2, cap. 2 bes. 219 ff., ferner 425 ff. u. M. de
Wulf Histoire de la philos. medievale, livre III, 173 ff.