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Gerhard Ritter:
Wohl die glänzendste methodische Leistung der Okkamisten
auf den genannten Gebieten ist die (zuerst von M. Curtze in ihrer
Bedeutung erkannte) Verwendung eines rechtwinkligen Koordi-
natensystems zur graphischen Darstellung von Qualitäten in ihrer
Extension innerhalb des qualitativ bestimmten Körpers (extensio
dargestellt durch die longitudo — Abszisse) und ihrer Intensität
(dargestellt durch die latitudo, eine Art Ordinate) die Nikolaus von
Oresme zuerst durchführte. Er verwendete sie auch zur Darstellung
von Bewegungen in ihrer örtlichen Lage oder zeitlichen Dauer und
ihrer Geschwindigkeit und gelangte in der Berechnung der gesuch-
ten Größen mit Hilfe der sich ergebenden geometrischen Größen-
verhältnisse, wenigstens im Prinzip, zur Erfindung gewisser Hilfs-
mittel der analytischen Geometrie1.
Die Anwendung dieser geometrischen Methode auf die Unter-
suchung qualitativer Verhältnisse hat auch Marsilius von Inghen
unternommen, indem er ebenso wie Nikolaus von Oresme die selt-
same Buridansche Wärmetheorie geometrisch darstellte. Jede
Wärmeminderung eines Körpers sollte danach eine proportionale
Steigerung der Kältegrade an denselben Punkten des betr. Körpers
zur Voraussetzung haben, so daß die Gesamtsumme der stets ver-
einigt auftretenden Kälte- und Wärmegrade jederzeit in jedem
Punkte identisch bliebe. Marsilius trägt diese Theorie unter eifriger
Berufung auf seinen ,,Lehrer“ Buridan vor; eine veranschau-
lichende, sehr einfache Figur (Rechteck, durch Senkrechte in acht
gleiche Felder geteilt, quer durch eine Diagonale durchschnitten, die
die Senkrechten aufsteigend im Verhältnis 1:9, 2:8 usw. bis 9: 10 in
Abschnitte zerlegt) findet sich in dem Druck nr. 10; doch ist nicht
eigentlich die Rede von einem ungleichmäßig erhitzten Körper,
wie ihn Oresme geometrisch veranschaulicht, sondern ganz all-
gemein von dem Wechsel der Wärme-Intensitäten und der zu-
sammengesetzten Natur der Wärme überhaupt2.
1 Duhem III, 385 ff. M. Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathe-
matik II2, 132 warnt mit sehr einleuchtenden Gründen vor der Überschätzung
dieser Neuerungen, die gleichwohl bei D. sich findet. Nach Cantor lag die
Hauptleistung Oresmes auf dem Gebiete der Arithmetik (Einführung von
Potenzgrößen mit gebrochenen Exponenten u. a. m.).
2 1. c. lib. II, qu. 6, art. 1, Druck nr. 10. Eine ähnliche Darlegung über
das Zusammensein von Kalt und Warm s. abbrev. phvs. 1. c. Bl. 17. —
Über die starke Wirkung dieser Lehre in der Fassung d. M. v. I. auf die ita-
lienische Naturphilosophie (Paulus Venetus) vgl. Duhem III 481/2.
Gerhard Ritter:
Wohl die glänzendste methodische Leistung der Okkamisten
auf den genannten Gebieten ist die (zuerst von M. Curtze in ihrer
Bedeutung erkannte) Verwendung eines rechtwinkligen Koordi-
natensystems zur graphischen Darstellung von Qualitäten in ihrer
Extension innerhalb des qualitativ bestimmten Körpers (extensio
dargestellt durch die longitudo — Abszisse) und ihrer Intensität
(dargestellt durch die latitudo, eine Art Ordinate) die Nikolaus von
Oresme zuerst durchführte. Er verwendete sie auch zur Darstellung
von Bewegungen in ihrer örtlichen Lage oder zeitlichen Dauer und
ihrer Geschwindigkeit und gelangte in der Berechnung der gesuch-
ten Größen mit Hilfe der sich ergebenden geometrischen Größen-
verhältnisse, wenigstens im Prinzip, zur Erfindung gewisser Hilfs-
mittel der analytischen Geometrie1.
Die Anwendung dieser geometrischen Methode auf die Unter-
suchung qualitativer Verhältnisse hat auch Marsilius von Inghen
unternommen, indem er ebenso wie Nikolaus von Oresme die selt-
same Buridansche Wärmetheorie geometrisch darstellte. Jede
Wärmeminderung eines Körpers sollte danach eine proportionale
Steigerung der Kältegrade an denselben Punkten des betr. Körpers
zur Voraussetzung haben, so daß die Gesamtsumme der stets ver-
einigt auftretenden Kälte- und Wärmegrade jederzeit in jedem
Punkte identisch bliebe. Marsilius trägt diese Theorie unter eifriger
Berufung auf seinen ,,Lehrer“ Buridan vor; eine veranschau-
lichende, sehr einfache Figur (Rechteck, durch Senkrechte in acht
gleiche Felder geteilt, quer durch eine Diagonale durchschnitten, die
die Senkrechten aufsteigend im Verhältnis 1:9, 2:8 usw. bis 9: 10 in
Abschnitte zerlegt) findet sich in dem Druck nr. 10; doch ist nicht
eigentlich die Rede von einem ungleichmäßig erhitzten Körper,
wie ihn Oresme geometrisch veranschaulicht, sondern ganz all-
gemein von dem Wechsel der Wärme-Intensitäten und der zu-
sammengesetzten Natur der Wärme überhaupt2.
1 Duhem III, 385 ff. M. Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathe-
matik II2, 132 warnt mit sehr einleuchtenden Gründen vor der Überschätzung
dieser Neuerungen, die gleichwohl bei D. sich findet. Nach Cantor lag die
Hauptleistung Oresmes auf dem Gebiete der Arithmetik (Einführung von
Potenzgrößen mit gebrochenen Exponenten u. a. m.).
2 1. c. lib. II, qu. 6, art. 1, Druck nr. 10. Eine ähnliche Darlegung über
das Zusammensein von Kalt und Warm s. abbrev. phvs. 1. c. Bl. 17. —
Über die starke Wirkung dieser Lehre in der Fassung d. M. v. I. auf die ita-
lienische Naturphilosophie (Paulus Venetus) vgl. Duhem III 481/2.