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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0102
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102

Gerhard Ritter:

Die Teile eines Körpers streben aber nicht etwa danach, daß j eder-
einzelne für sich das Ziel erreicht — solange sie mit dem Körper
verbunden sind —, sondern daß das Ganze seinen natürlichen
Platz erhält1; andernfalls würden sich ja in der Tat die einzelnen
Teile gegenseitig von diesem Orte verdrängen und dadurch den
Fall verlangsamen, wie z. B. Roger Bacon behauptet hatte2. In
Wahrheit ist es aber nur der Widerstand der umgebenden Luft,
der den Fall aufhält (genau so hatte Aristoteles gelehrt, ohne den
Begriff der Masse und ihrer Trägheit zu kennen) und im Vakuum
würde der schwere Körper mit unendlicher Geschwindigkeit fallen3.
So ist denn auch der locus naturalis der Erde — diese als die Summe
ihrer einzelnen Teilkörper begriffen — nichts anderes als ihre
Oberfläche: für das Wasser und die feste Erde die konkave Ober-
fläche der sie umspülenden Luft, für die Luft der Raum zwischen
der konkaven Oberfläche des Feuers als des himmlischen Elemen-
tes, und der konvexen des Wassers, für das Feuer entsprechend
der Raum zwischen der irdischen und der lunarischen Sphäre4. So
ruht und erhält sich jedes Element an seinem natürlichen Orte
ohne gewaltsame Spannung.
Wie man sieht, ist in all diesen Ausführungen wieder das
aristotelische Weltbild in weitem Umfang festgehalten; im übrigen
stimmen sie bis in alle Einzelheiten so genau mit der Lehre Alberts
von Sachsen überein5, daß an einer Abhängigkeit des Marsilius
1 1. c. Bl. 35, a (quaterne c 4): Non appetunt partes existentes in toto des-
cendere per lineam brevissimam ; non enim quelibet appetit esse in centro mundi,
quia hoc esset impossibile, sed solum, ut centrum tocius sit centrum mundi et ut
totum per lineam brevissimam descendat; partes enim inclinantur conformiter toti.
2 Du hem III, 25.
3 1. c. Bl. 35, a: Gravi simplici descendenti nihil resistit nisi medium
saltem de per se. . . . Si non esset resistentia nedii, ipsum non moveretur. Doch
wird von dem grave simplex das grave mixtum unterschieden, d. i. ein Körper,
in dem das schwere Element Erde mit dem leichten, dem Feuer, gemischt ist.
4 1. c. Bl. 31,a: Aer naturaliter quiescit infra concavum ignis et convexum
aque, similiter ignis inter convexum aeris et concavum lune. — Ibid. Bl. 30, c:
Superficies concava aeris contingens terram est locus naturalis terre. Est autem
centrum gravitatis terre punctus infra terram dereliquens ex omni latere sui
equalem gravitatem terre, sicut centrum magnitudinis est punctus ex omni latere
suo eque distans ab extremitate terre. Auch diese Unterscheidung der beiden
Zentren findet sich bei Albert v. Sachsen! — Ferner ibid.: Omnis superfieies
immediate continens maximam quantitatem terre sic, quod- centritrica gravi-
tas ipsius terre est centrum mundi, est locus naturalis terre quoad naturam eius
proprium. Ähnlich: de gen. et corr. 1. II, qu. 1, art. 1.
5 Vgl. deren Darstellung bei Duhem 1, 7 ff.
 
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