Gerhard Ritter:
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Axiomen des Aristoteles ganz unvermittelt die augustinische Selbst-
gewißheit des erkennenden Subjekts erscheint — gleichsam als
Vertreter einer neuen, über die Antike hinausführenden Gedanken-
welt, ohne daß ihm die Spekulation dieser angeblich subjekti-
vistischen Erkenntnislehre die volle Auswirkung gestattete: da
diese Selbstgewißheit immer nur subjektive Bedeutung hat, ist sie
als eine ,,rein kontingente“ Wahrheit ohne metaphysische Bedeu-
tung zu werten1.
Außer dieser „höchsten“ Evidenz gibt es aber noch eine ab-
gestufte (in genere). Sie kommt den Einzelschlüssen der verschie-
denen Wissenschaften zu, und es ist klar, daß unter ihnen die
Mathematik die erste Stelle einnimmt, da sie auf den sichersten
Unterlagen aufbaut; an zweiter Stelle steht die Naturphilosophie,
aus den Erfahrungsprinzipien abgeleitet, und noch geringer (adhuc
minor) ist die Gewißheit der Metaphysik (prima philo Sophia), da
ihre abstrakte und schwierige Materie die Sicherheit des Schluß-
verfahrens beeinträchtigt; am niedersten endlich ist der Gewiß-
heitsgrad der moralischen Wissenschaften, da diese einen wandel-
baren Gegenstand bearbeiten2. Wenn in dieser Anordnung die
Metaphysik erst an dritter Stelle erscheint, so wird doch ausdrück-
lich unterstrichen, daß auch die Erfahrungswissenschaft der höch-
sten Evidenz ermangelt. Zwar bieten die Sinne bei normalem Zu-
stand der menschlichen Organe eine zuverlässige Erfahrung3; aber
was bedeutet die Richtigkeit der Wahrnehmung äußerer Dinge
gegenüber der theologischen Wahrheit, daß es in Gottes Allmacht
liegt, jederzeit den Naturzusammenhang nach Belieben zu ändern!
Wie leicht ist da ein Irrtum unseres Urteils möglich4! So erscheint
1 ibid. co. 1, Bl. 13, b: Data [propositione]: ,,Hec anima est“ demon-
strando illam animam, in qua est illa propositio vera, credendo illam anima
nequit decipi usw. Corell. 1 bezeichnet diese Wahrheit als purum contingens,
corell. 2 betont ihre rein subjektive Geltung.
2 ibid. a. 2, Bl. 13, b: [Est evidentia] in mathematica principiorum el
conclusionum suppositis principiis evidencia in majori genere, in philosophia
naturali minor, in [philosophia] prima in ordine ad modum cognoscendi ex
primis principiis adhuc minor, et minima in morali, quod materia subjecta
mutabilis existens evidenciam minimam admittit inter genera sciendi.
3 ibid. Die ,,raciones principales“ behandeln ausführlich und interessant
die Möglichkeit der verschiedenen Sinnestäuschungen.
4 ibid. a. 2, co. 5: De principiis per experienciam notis communiter non
est evidencia summa . . . quia staret . . . per aliquant probationem credentem sic
decipi, ut, si deus omnem ignem conservaret sine caliditate, credens hanc [proposi.-
cionemj: ,,Omnis ignis est calidusdeciperetur.
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Axiomen des Aristoteles ganz unvermittelt die augustinische Selbst-
gewißheit des erkennenden Subjekts erscheint — gleichsam als
Vertreter einer neuen, über die Antike hinausführenden Gedanken-
welt, ohne daß ihm die Spekulation dieser angeblich subjekti-
vistischen Erkenntnislehre die volle Auswirkung gestattete: da
diese Selbstgewißheit immer nur subjektive Bedeutung hat, ist sie
als eine ,,rein kontingente“ Wahrheit ohne metaphysische Bedeu-
tung zu werten1.
Außer dieser „höchsten“ Evidenz gibt es aber noch eine ab-
gestufte (in genere). Sie kommt den Einzelschlüssen der verschie-
denen Wissenschaften zu, und es ist klar, daß unter ihnen die
Mathematik die erste Stelle einnimmt, da sie auf den sichersten
Unterlagen aufbaut; an zweiter Stelle steht die Naturphilosophie,
aus den Erfahrungsprinzipien abgeleitet, und noch geringer (adhuc
minor) ist die Gewißheit der Metaphysik (prima philo Sophia), da
ihre abstrakte und schwierige Materie die Sicherheit des Schluß-
verfahrens beeinträchtigt; am niedersten endlich ist der Gewiß-
heitsgrad der moralischen Wissenschaften, da diese einen wandel-
baren Gegenstand bearbeiten2. Wenn in dieser Anordnung die
Metaphysik erst an dritter Stelle erscheint, so wird doch ausdrück-
lich unterstrichen, daß auch die Erfahrungswissenschaft der höch-
sten Evidenz ermangelt. Zwar bieten die Sinne bei normalem Zu-
stand der menschlichen Organe eine zuverlässige Erfahrung3; aber
was bedeutet die Richtigkeit der Wahrnehmung äußerer Dinge
gegenüber der theologischen Wahrheit, daß es in Gottes Allmacht
liegt, jederzeit den Naturzusammenhang nach Belieben zu ändern!
Wie leicht ist da ein Irrtum unseres Urteils möglich4! So erscheint
1 ibid. co. 1, Bl. 13, b: Data [propositione]: ,,Hec anima est“ demon-
strando illam animam, in qua est illa propositio vera, credendo illam anima
nequit decipi usw. Corell. 1 bezeichnet diese Wahrheit als purum contingens,
corell. 2 betont ihre rein subjektive Geltung.
2 ibid. a. 2, Bl. 13, b: [Est evidentia] in mathematica principiorum el
conclusionum suppositis principiis evidencia in majori genere, in philosophia
naturali minor, in [philosophia] prima in ordine ad modum cognoscendi ex
primis principiis adhuc minor, et minima in morali, quod materia subjecta
mutabilis existens evidenciam minimam admittit inter genera sciendi.
3 ibid. Die ,,raciones principales“ behandeln ausführlich und interessant
die Möglichkeit der verschiedenen Sinnestäuschungen.
4 ibid. a. 2, co. 5: De principiis per experienciam notis communiter non
est evidencia summa . . . quia staret . . . per aliquant probationem credentem sic
decipi, ut, si deus omnem ignem conservaret sine caliditate, credens hanc [proposi.-
cionemj: ,,Omnis ignis est calidusdeciperetur.