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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0140
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140

Gerhard Ritter:

Offenbarungsinhalt (der ja nirgends mit der ratio in direktem
Gegensatz stehen sollte), erklärend und apologetisch bearbeitete,
ein weites Feld wissenschaftlicher Tätigkeit. Auch dieser „fromme
Rationalismus“1 war im Grundsatz durch Skotus und vollends
durch Okkam zerstört worden. Die Theologie ist keine Wissen-
schaft im strengen Sinne mehr. Das erkennt auch Marsilius an.
Das theologische Wissen geht ja nicht auf die beiden einzig gültigen
Quellen der „natürlichen“ Erkenntnis, Erfahrung und logische
Evidenz, zurück, sondern auf geoffenbarte Wahrheiten: in erster
Linie auf den Inhalt des biblischen Kanons, der im Glauben an-
genommen wird; aus diesen obersten, ohne wissenschaftlichen
„Beweis“ gültigen Wahrheiten leitet die Theologie ihre Sätze in
konkretem Schlußverfahren ab, ähnlich wie die kanonische Rechts-
wissenschaft die ihrigen aus den Dekretalien2. Eine supranaturale
Erkenntnis von Glaubenswahrheiten (etwa im Sinne Bonaventuras
oder der Mystik), die als echtes „Wissen“, nicht als „Glauben“
anzusprechen wäre, lehnt unser Philosoph nicht ohne einen leichten
Unterton von Ironie ausdrücklich ab3. Er vertritt durchaus den
nüchternen, strengen Aristotelismus, wie er Geme’ngut der „mo-
dernen“ Schule war; auch Gregor von Rimini argumentierte ganz
ähnlich4. Aber Marsilius geht sogleich über diese negative Bestim-
mung hinaus. Es gibt „sehr viele“ Sätze, die zugleich philosophisch
und theologisch wahr sind3. Die wichtigsten dieser Sätze sind die
„natürlichen“ Urteile über Gotte ; Dasein und Wesen. Von ihnen
u. a. m. kann man zuerst eine wissenschaftliche und danach eine
Glaubenserkenntnis haben. Damit wird das Verdienst des Glaubens
durchaus nicht geschmälert; denn das Verdienstliche am Glauben
ist nicht die Erkenntnis, sondern der Glaubenswille, der durch die
Einsicht nicht geschwächt, sondern eher gestärkt wird6. Wir
1 Seeberg, Dogmengesch. III3, 354.
2 üb. sent. I, qu. 2, art. 2, not. 2, Bl. 11: art. 3 sciendum 3, Bl. 12, a;
ibid. concl. 9, Bl. 18 v; vgl. auch oben p. 66.
3 ibid. art. 3, contra concl. 7 — 8, Bl. 18: De articulis fidei non habetur
a viatoribus communiter, sive sint doctores, sive devoti viri, aliquid lumen nisi
fidei . . . Signum enim sapientis est posse dicere; modo non est inventus, qui
posset doctrina sua aHiculos fidei facere intellectos evidenter, nisi solum creditos.
4 In lib. sent. I, prob, qu. 1, art. 4, concl. 1 — 2.
5 lib. sent. I, qu. 2, art. 3, supp. 2.
6 1. c. art. 3, prop. 1, Bl. 13, d: Fidelis fide meretur volendo credere,
que volunias non aufertur per medium. scienlificum, sed forte roboratur. Eine
Annäherung an den reformatorischen Glaubensbegriff liegt in dieser Wen-
 
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