Gerhard Ritter:
J 54
feine Beobachtung gemacht, daß der natürliche Trieb des Tieres
im Gegensatz zum Menschen niemals in Widerspruch mit seiner
höheren Naturbestimmung geraten kann: z. B. kann nur der
Mensch die Begattung ohne ihre natürlichen Folgen wünschen1.
Eine Stufe höher steht die sensuale Begehrung, die als natür-
liche Reaktion auf die Sinneswahrnehmungen aufzufassen ist. Schon
die einfachsten, inkomplexen Elemente dieser Wahrnehmung können
eine solche Reaktion hervorrufen, ohne jede Mitwirkung des In-
tellekts: es gibt Muscheltiere, die nur Tastempfindung besitzen und
sich sofort zusammenziehen wenn der Felsen zu warm wird, an
dem sie kleben2. Und wiederum über dieses sinnliche Triebleben
erhebt sich der Wolle des Menschen: nur wo eine durch den Intellekt
vermittelte Einwirkung eines Objektes die Seele erregt, kann von
„Willen“ die Rede sein, und die voluntas ist nichts anderes, als
die Seele selbst im Zustande solcher Erregtheit3. Die sensuale
Begehrung kann aber auch im vernunftbegabten Menschen, nicht
nur bei Kindern und Geisteskranken, stärker sein als alle ver-
nünftige Überlegung: die Leidenschaft fragt nicht nach Verstandes-
gründen und überrumpelt selbst den freien Willen. Was nun die
eigentliche Willenstätigkeit angeht, so kann ihr ebensowohl die
inkomplexe Einzelvorstellung wie der Syllogismus practicus, die
geordnete Überlegung, zum Motiv werden. In keinem Fall ist die
aristotelische Anschauung zutreffend, nach der einem jeden Willens-
entschluß der Syllogismus practicus voraufgehen sollte4.
Marsilius legt besonderes Gewicht auf den Nachweis dieses
Satzes. Oft erregt der bloße Sinneseindruck oder die inkomplexe
Einzelvorstellung des Intellekts ein so mächtiges Wohlgefallen
(bezw. Mißfallen), daß die vernünftige Überlegung gar nicht erst
in Tätigkeit tritt: der Hungrige verlangt und verzehrt die vom
Intellekt bezeichnete Speise ohne jede Besinnung. Aber auch wenn
der Syllogismus practicus wirklich zustande kommt, erweist er sich
in vielen Fällen als ohnmächtig gegenüber der Gefühlswirkung der
von ihm beurteilten Einzelvorstellungen. Was nützt mir die sorg-
fältigste Überlegung, der außereheliche Geschlechtsverkehr sei als
ungeziemend (inhonestum) zu verwerfen, wenn der Anreiz zur
1 Hier schließen sich ausführliche ethische Betrachtungen über Prohi-
bition usw. an. 2 Qu. 16, art. 1, Bl. 273, c.
3 Qu. 16, art. 1, Bl. 272, d: Anima dicitur voluntas, inquantum sequitur
cognitionem sensitivam immediate. — Das Folgende ibid. art. 1.
4 Gegen EthicaVII.—Art.5, Bl. 284, a, ad 3 —4. Umdeutung und Polemik.
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feine Beobachtung gemacht, daß der natürliche Trieb des Tieres
im Gegensatz zum Menschen niemals in Widerspruch mit seiner
höheren Naturbestimmung geraten kann: z. B. kann nur der
Mensch die Begattung ohne ihre natürlichen Folgen wünschen1.
Eine Stufe höher steht die sensuale Begehrung, die als natür-
liche Reaktion auf die Sinneswahrnehmungen aufzufassen ist. Schon
die einfachsten, inkomplexen Elemente dieser Wahrnehmung können
eine solche Reaktion hervorrufen, ohne jede Mitwirkung des In-
tellekts: es gibt Muscheltiere, die nur Tastempfindung besitzen und
sich sofort zusammenziehen wenn der Felsen zu warm wird, an
dem sie kleben2. Und wiederum über dieses sinnliche Triebleben
erhebt sich der Wolle des Menschen: nur wo eine durch den Intellekt
vermittelte Einwirkung eines Objektes die Seele erregt, kann von
„Willen“ die Rede sein, und die voluntas ist nichts anderes, als
die Seele selbst im Zustande solcher Erregtheit3. Die sensuale
Begehrung kann aber auch im vernunftbegabten Menschen, nicht
nur bei Kindern und Geisteskranken, stärker sein als alle ver-
nünftige Überlegung: die Leidenschaft fragt nicht nach Verstandes-
gründen und überrumpelt selbst den freien Willen. Was nun die
eigentliche Willenstätigkeit angeht, so kann ihr ebensowohl die
inkomplexe Einzelvorstellung wie der Syllogismus practicus, die
geordnete Überlegung, zum Motiv werden. In keinem Fall ist die
aristotelische Anschauung zutreffend, nach der einem jeden Willens-
entschluß der Syllogismus practicus voraufgehen sollte4.
Marsilius legt besonderes Gewicht auf den Nachweis dieses
Satzes. Oft erregt der bloße Sinneseindruck oder die inkomplexe
Einzelvorstellung des Intellekts ein so mächtiges Wohlgefallen
(bezw. Mißfallen), daß die vernünftige Überlegung gar nicht erst
in Tätigkeit tritt: der Hungrige verlangt und verzehrt die vom
Intellekt bezeichnete Speise ohne jede Besinnung. Aber auch wenn
der Syllogismus practicus wirklich zustande kommt, erweist er sich
in vielen Fällen als ohnmächtig gegenüber der Gefühlswirkung der
von ihm beurteilten Einzelvorstellungen. Was nützt mir die sorg-
fältigste Überlegung, der außereheliche Geschlechtsverkehr sei als
ungeziemend (inhonestum) zu verwerfen, wenn der Anreiz zur
1 Hier schließen sich ausführliche ethische Betrachtungen über Prohi-
bition usw. an. 2 Qu. 16, art. 1, Bl. 273, c.
3 Qu. 16, art. 1, Bl. 272, d: Anima dicitur voluntas, inquantum sequitur
cognitionem sensitivam immediate. — Das Folgende ibid. art. 1.
4 Gegen EthicaVII.—Art.5, Bl. 284, a, ad 3 —4. Umdeutung und Polemik.