70
Ernst Lohmeyer:
V.
Wenn auch die Darstellung des Liedes an Formen jüdischer
Anschauung hat anknüpfen können, so bleibt doch die Eigenart
seiner christologischen Betrachtung gewahrt, und sie unterscheidet
sich von allen bekannten christologischen Konzeptionen, sei es des
Paulus oder des Johannes oder auch des Hebräerbriefes. In ihrer
Mitte steht die Gestalt des Menschensohnes; sie ist gleichsam nach
rückwärts in die Zeitlosigkeit der göttlichen Welt verlängert. Aber
über ihr präexistentes Dasein kennt der Psalm nur dunkle und unbe-
stimmte Andeutungen, und kein eindeutiger Name bezeichnet
dieses ,,Sein in göttlicher Gestalt“. So könnten an sich nach da-
maliger jüdischer Anschauung auch Engel und Erzengel überhaupt
bezeichnet werden. Was diese Gestalt, die auch noch nicht deutlich
in eine einzigartige Beziehung zu Gott gestellt ist, von ihnen unter-
scheidet, ist nichts Anderes als seine vorzeitliche Tat: ,,Er hielt
es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein“. Es ist die Geschichte
seiner vorzeitlichen Versuchung, mit welcher auch nach der An-
schauung des Hebräerbriefes der Gedanke der Erniedrigung ver-
knüpft ist. Es ist wohl auch kaum zufällig, daß er dort im Anschluß
an Ps. 8, 5—7 formuliert ist. Hier ist von dem „Menschensohn“ die
Rede, der eine kleine Weile unter die Engel erniedrigt war, um als-
dann in Ehre und Herrlichkeit die Herrschaft über das All anzu-
treten. Ist dieser Psalm auch ursprünglich ein Lied von der urzeit-
lichen Schöpfung, so gibt es doch außer der Übereinstimmung der
beiden neutestamentlichen Stellen einige Anzeichen, daß er im rab-
binischen Judentum von der endzeitlichen Herrschaft des zweiten
Adam, des Messias, verstanden worden ist. So scheint auch hier
der Abstieg der göttlichen Gestalt vom Himmel zur Erde im An-
schluß an jüdische Theoreme konzipiert zu sein. Wenn hier stärker
die Freiwilligkeit der Tat betont ist, so ist sie in ähnlicher Weise
auch schon Jes. 53 hervorgehoben.
Vielleicht lassen sich auch noch die Gründe angeben, die zur
Übertragung dieser jüdischen Gedanken auf die geschichtliche
Gestalt Jesu geführt haben. Zwei feste geschichtliche Daten werden
genannt; das eine ist der Tod, das andere das „Erfunden-werden
als Menschensohn“. Der letzte Ausdruck sagt nichts von einer
werden zumeist als „christliche Interpolationen“ ausgeschieden. Aber das
Recht zu solchen Ausscheidungen scheint von den angedeuteten Zusammen-
hängen nicht ohne weiteres gegeben und muß in jedem einzelnen Falle beson-
ders geprüft werden.
Ernst Lohmeyer:
V.
Wenn auch die Darstellung des Liedes an Formen jüdischer
Anschauung hat anknüpfen können, so bleibt doch die Eigenart
seiner christologischen Betrachtung gewahrt, und sie unterscheidet
sich von allen bekannten christologischen Konzeptionen, sei es des
Paulus oder des Johannes oder auch des Hebräerbriefes. In ihrer
Mitte steht die Gestalt des Menschensohnes; sie ist gleichsam nach
rückwärts in die Zeitlosigkeit der göttlichen Welt verlängert. Aber
über ihr präexistentes Dasein kennt der Psalm nur dunkle und unbe-
stimmte Andeutungen, und kein eindeutiger Name bezeichnet
dieses ,,Sein in göttlicher Gestalt“. So könnten an sich nach da-
maliger jüdischer Anschauung auch Engel und Erzengel überhaupt
bezeichnet werden. Was diese Gestalt, die auch noch nicht deutlich
in eine einzigartige Beziehung zu Gott gestellt ist, von ihnen unter-
scheidet, ist nichts Anderes als seine vorzeitliche Tat: ,,Er hielt
es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein“. Es ist die Geschichte
seiner vorzeitlichen Versuchung, mit welcher auch nach der An-
schauung des Hebräerbriefes der Gedanke der Erniedrigung ver-
knüpft ist. Es ist wohl auch kaum zufällig, daß er dort im Anschluß
an Ps. 8, 5—7 formuliert ist. Hier ist von dem „Menschensohn“ die
Rede, der eine kleine Weile unter die Engel erniedrigt war, um als-
dann in Ehre und Herrlichkeit die Herrschaft über das All anzu-
treten. Ist dieser Psalm auch ursprünglich ein Lied von der urzeit-
lichen Schöpfung, so gibt es doch außer der Übereinstimmung der
beiden neutestamentlichen Stellen einige Anzeichen, daß er im rab-
binischen Judentum von der endzeitlichen Herrschaft des zweiten
Adam, des Messias, verstanden worden ist. So scheint auch hier
der Abstieg der göttlichen Gestalt vom Himmel zur Erde im An-
schluß an jüdische Theoreme konzipiert zu sein. Wenn hier stärker
die Freiwilligkeit der Tat betont ist, so ist sie in ähnlicher Weise
auch schon Jes. 53 hervorgehoben.
Vielleicht lassen sich auch noch die Gründe angeben, die zur
Übertragung dieser jüdischen Gedanken auf die geschichtliche
Gestalt Jesu geführt haben. Zwei feste geschichtliche Daten werden
genannt; das eine ist der Tod, das andere das „Erfunden-werden
als Menschensohn“. Der letzte Ausdruck sagt nichts von einer
werden zumeist als „christliche Interpolationen“ ausgeschieden. Aber das
Recht zu solchen Ausscheidungen scheint von den angedeuteten Zusammen-
hängen nicht ohne weiteres gegeben und muß in jedem einzelnen Falle beson-
ders geprüft werden.