IV. Subjekt und Prädikat.
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sie sucht, kann nie, um mit Heidegger1 zu reden, aXyjakioc im Sinne
der bloßen ,,Ent-Decktheit“ oder der für den „Blick“ freigelegten
Anschauung sein. Das alles ist nur conditio sine qua non für
das Finden der Wahrheit durch das Ich, aber gewiß noch nicht
das Wahre selbst als logisch verstehbarer wahrer Sinn.
Der Intuitionismus, der ernst damit machen will, sich auf die
Anschauung bei dem Problem der Wahrheit zu beschränken,
kann nicht einmal begreifen, worin die einfachste erkannte Wahrheit
über irgendeinen anschaulich gegebenen Inhalt besteht. Es
ist eben, wie unsere Analyse gezeigt haben muß, einfach nicht
wahr, daß wir, um etwas Wahres zu erkennen, nichts anderes
zu tun haben, als uns vorurteilslos den „Sachen“ hinzugeben, um
sie in „reiner“, enthüllter Anschauung zu erfassen. Das wußte
auch der oft als „Augenmensch“ gepriesene Goethe sogar bei
seiner Farbenlehre, für die es doch wahrlich auf Anschauung an-
kam, sehr gut, wenn er sagte: „Das bloße Anblicken einer Sache
kann uns nicht fördern“, und er wußte das vielleicht gerade des-
halb so gut, weil er im übrigen als Dichter sich wie wenige Forscher
auch auf die „Anschauung“ verstand. Bei unsern modernen Intui-
tionisten dagegen hat man bisweilen den Verdacht, daß sie nur
deswegen so sehr die Anschauung preisen, weil sie nie „erlebt“
haben, was echte Anschauung eigentlich ist. Sonst hätten sie be-
merkt: Künstler „sehen“ von den Inhalten der Welt in der Regel
viel mehr als wissenschaftliche Menschen und brauchen trotzdem
noch nicht die geringste Erkenntnis der Welt zu besitzen. Ja,
die theoretische Wahrheit über die Dinge interessiert sie in der
Regel gerade dann gar nicht, wenn sie die Gegenstände intuitiv
auf das genaueste erfassen. Die Fähigkeit zu sehen ist eben von
theoretischem Wi s s en in hohem Maße unabhängig. Lionardo hat
den von der Wissenschaft bis auf Goethe nicht erkannten Zwischen-
kieferknochen genau gezeichnet, also auschaulich „gekannt“, ohne
theoretisch davon irgendetwas wi ssen zu können. Wer imstande
ist, den Eigenwert der Anschauung zu schätzen und ihre Eigenart
zu würdigen, der wird ihr nicht etwas zumuten, was sie nie zu
leisten vermag, nämlich logische Wahrheit einer Erkenntnis
zu geben.
Jedenfalls: Erkenntnis ist immer auch, ja gerade dann, wenn
sie es mit Anschauung zu tun hat, Erkenntnis über Anschauung
und deswegen notwendig mehr als bloße Anschauung. Die „reine“
Vgl. Sein und Zeit, S. 33.
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sie sucht, kann nie, um mit Heidegger1 zu reden, aXyjakioc im Sinne
der bloßen ,,Ent-Decktheit“ oder der für den „Blick“ freigelegten
Anschauung sein. Das alles ist nur conditio sine qua non für
das Finden der Wahrheit durch das Ich, aber gewiß noch nicht
das Wahre selbst als logisch verstehbarer wahrer Sinn.
Der Intuitionismus, der ernst damit machen will, sich auf die
Anschauung bei dem Problem der Wahrheit zu beschränken,
kann nicht einmal begreifen, worin die einfachste erkannte Wahrheit
über irgendeinen anschaulich gegebenen Inhalt besteht. Es
ist eben, wie unsere Analyse gezeigt haben muß, einfach nicht
wahr, daß wir, um etwas Wahres zu erkennen, nichts anderes
zu tun haben, als uns vorurteilslos den „Sachen“ hinzugeben, um
sie in „reiner“, enthüllter Anschauung zu erfassen. Das wußte
auch der oft als „Augenmensch“ gepriesene Goethe sogar bei
seiner Farbenlehre, für die es doch wahrlich auf Anschauung an-
kam, sehr gut, wenn er sagte: „Das bloße Anblicken einer Sache
kann uns nicht fördern“, und er wußte das vielleicht gerade des-
halb so gut, weil er im übrigen als Dichter sich wie wenige Forscher
auch auf die „Anschauung“ verstand. Bei unsern modernen Intui-
tionisten dagegen hat man bisweilen den Verdacht, daß sie nur
deswegen so sehr die Anschauung preisen, weil sie nie „erlebt“
haben, was echte Anschauung eigentlich ist. Sonst hätten sie be-
merkt: Künstler „sehen“ von den Inhalten der Welt in der Regel
viel mehr als wissenschaftliche Menschen und brauchen trotzdem
noch nicht die geringste Erkenntnis der Welt zu besitzen. Ja,
die theoretische Wahrheit über die Dinge interessiert sie in der
Regel gerade dann gar nicht, wenn sie die Gegenstände intuitiv
auf das genaueste erfassen. Die Fähigkeit zu sehen ist eben von
theoretischem Wi s s en in hohem Maße unabhängig. Lionardo hat
den von der Wissenschaft bis auf Goethe nicht erkannten Zwischen-
kieferknochen genau gezeichnet, also auschaulich „gekannt“, ohne
theoretisch davon irgendetwas wi ssen zu können. Wer imstande
ist, den Eigenwert der Anschauung zu schätzen und ihre Eigenart
zu würdigen, der wird ihr nicht etwas zumuten, was sie nie zu
leisten vermag, nämlich logische Wahrheit einer Erkenntnis
zu geben.
Jedenfalls: Erkenntnis ist immer auch, ja gerade dann, wenn
sie es mit Anschauung zu tun hat, Erkenntnis über Anschauung
und deswegen notwendig mehr als bloße Anschauung. Die „reine“
Vgl. Sein und Zeit, S. 33.