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YI. Sein als Erkenntnisprädikat, als Denkprädikat u. als Gopula. 145

Die Wahrheit: „etwas ist seiend“ liegt einerseits gewiß auch
den wahren Sinngebilden zugrunde, die noch nichts erkennen, son-
dern nur, wie man zu sagen pflegt, „formal wahr“ sind, sich also
z. B. nicht widersprechen. Wir können überhaupt nicht logisch
denken, ohne etwas als „seiend“ vorauszusetzen. Diese allgemeinste
Seinsart ist in der „formalen“ Logik als einer bloßen Denklehre
nicht genügend berücksichtigt, und sie darf hier nicht fehlen. Sie
liegt bereits dort vor, wo es im übrigen nur Identität oder Wider-
spruch gibt, denn schon der Satz „a ist a“ setzt voraus, daß das a
irgendwie „ist“, und das „ist“ bedeutet dann durchaus nicht etwa
nur die Copula zwischen a und a, sondern es hat den Sinn einer
wahren Aussage über Seiendes. Daran ist nicht zu zweifeln.
Aber das alles ist nur die ein.e Seite der Sache. Ebenso steht
andererseits fest: durch dies allgemeinste „Sein“ wird, selbst wenn
es als Prädikat „ist“ auftritt, noch nichts Wahres „erkannt“, d. h.
kein Gegenstand in der Welt erfaßt, sondern lediglich etwas Wahres
„gedacht“. Man mag vielleicht mit Recht sagen: dieser Unter-
schied im Begriffe des Seins ließe sich sprachlich noch besser
als durch den Unterschied von „Denken“ und „Erkennen“ zum
Ausdruck bringen. Sachlich aber sollte man seine Bedeutung nicht
leugnen. Es gibt Wahrheiten, die keinen Gegenstand in der Welt
erkennen, und auch sie haben als Prädikat ein „Sein“. Nur ist
dies Sein dann noch kein Erkenntnisprädikat. Dies negative
Moment schon entscheidet.
Zunächst verfolgen wir jedoch die Gedanken, die sich hieraus
ergeben, im einzelnen nicht weiter. Es kam vorläufig nur darauf
an, das allgemeinste, noch völlig undifferenzierte „Sein“ als bloße
Denkform der „formalen Logik“ zuzuweisen und es so von allen
Erkenntnisformen der gegenständlichen Wahrheiten, die schon
besondere Arten des Seins sind, zu trennen. Das ist jetzt genügend
geschehen, und nur das eine wollen wir zur Beseitigung jedes Miß-
verständnisses schließlich noch ausdrücklich hinzufügen. Wir dür-
fen den allgemeinsten Begriff des Seins, falls er mit Recht als der
einer bloßen Denkform bezeichnet werden soll, d. h. als Form, die
noch keine gegenständliche Erkenntnis gibt, nicht zu eng fassen,
also ihm nicht unmerklich irgendeine besondere Art des Seins
unterschieben, so daß man glauben könnte, es gäbe schließlich doch
etwas, das in der hier gemeinten Bedeutung des Wortes „sein“
nicht „sei“ und trotzdem gedacht werden könne, so daß der Satz,
es „sei“, schon eine Erkenntnis enthielte. Vor solchen Unbestimmt-

Sitzungsberichte d. Ileidelb. Akad., phil.-h.ist. Kl. 1930/31. l.Abh.

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